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Veranstaltungen & Projekte

Zeitarbeit in der Pflege: von der (Not-)Lösung zum Problem?

25. Mai 2023

Über 200 Gäste kamen am 12. Mai ins Studio dumont (Mitschnitt der Veranstaltung: https://youtu.be/V6tJRfc_YuQ). Dort hatte das Clarenbachwerk zusammen mit anderen Trägern (Diakonie Köln und Region, Johanniter, Diakonie Michaelshoven, Clarenbachstift, Evangelische Altenhilfe Brück-Merheim/Matthias-Claudius-Heim) eingeladen.

Mit Oberbürgermeisterin Henriette Reker und KommunalpolitikerInnen – Ursula Gärtner (CDU), Mechthild Böll (Grüne), Jennifer Glashagen und Sieglinde Eich-Ganske (Volt), Viola Recktenwald (SPD), Katja Hoyer (FDP), Jörg Detjen (Linke) – haben wir über die aktuellen Herausforderungen durch Zeitarbeit in der Pflege gesprochen. Denn unter den aktuellen Bedingungen hat sie das Potenzial, die Personal- und Versorgungssituation in der Pflege sogar noch drastisch zu verschärfen. Warum ist das so?

Personal verzweifelt gesucht
In der Pflege wird händeringend Personal gesucht – insbesondere nach den Belastungen der Corona-Pandemie (laut Berufsverband für Pflegeberufe fehlen bundesweit etwa 200.000 Vollzeitkräfte). Wegen des Personalmangels können Pflegeeinrichtungen nicht alle Betten belegen, Pflegeplätze fehlen, ambulante Pflegedienste müssen Routen absagen. Eigentlich als Notlösung bei Engpässen gedacht, nimmt die Zeitarbeit durch den Personalmangel zu (laut Diakonie RWL bei Trägern der stationären Altenhilfe, Krankenhäusern und Kitas Verdoppelung in den letzten drei Jahren). Zeitarbeit wird so vom Ausnahme- zum Regelfall.

Aus der Not Kapital geschlagen
Das sorgt durch Fehlentwicklungen für zusätzliche Probleme in Pflegeeinrichtungen, ambulanten Diensten, Krankenhäuser oder Kitas. Unter den aktuellen, unregulierten Bedingungen verschärft die Zeitarbeit die Personal- und Versorgungssituation in der Pflege sogar noch drastisch. Denn durch die Personalnot können Zeitarbeitsfirmen beliebige Preise und Entleihbedingungen diktieren.

Das erzeugt eine enorme Preisspirale nach oben: Für Honorare, Gewinnmargen, Anfahrtspauschalen, Nacht-/Sonntags-/Feiertagszuschläge etc. werden Kosten von bis zu 100 Prozent mehr als das Arbeitgeberbrutto bei einer Festanstellung berechnet. Diese Kosten kommen zu den Ausgaben für das (ausgefallene/erkrankte) Stammpersonal hinzu.

Träger bleiben auf Kosten sitzen
Im Pflegebudget sind allerdings nur die bisherigen Tariflöhne, nicht die höheren Zeitarbeitskosten abgedeckt. Auf diesen Zusatzbeträgen bleiben die Träger sitzen: Je nach Größe des Trägers können mehrere Hunderttausend Euro bis zu einstellige Millionenbeträge pro Jahr anfallen.

Pflegerische Qualität leidet
Den höheren Kosten steht allerdings oft ein Mangel an Kompetenz, Sprachkenntnissen, Erfahrung und Zuverlässigkeit bei Zeitarbeitskräften gegenüber. Insbesondere Pflegehelfer sind oft unzureichend qualifiziert, die Eignung für bestimmte Einsätze und Tätigkeiten ist nicht zu überprüfen.
Fehlende Sprachkenntnisse können insbesondere nachts, bei schweren Pflegefällen oder im Notfall gef

ährlich werden. Unbekannte Arbeitsabläufe und fehlende Kenntnisse/Beziehungen zu Bewohnerinnen und Bewohnern bergen zusätzlich Risiken. Und: Nicht nur bei Kindern und Jugendlichen ist eine vertrauensvolle Bindung an das Personal wichtig – auch die stationäre Pflege leistet wertvolle Arbeit über Beziehungen. Mit kurzzeitiger Beschäftigung und häufigem Wechsel durch Zeitarbeitskräfte ist dieser Anspruch nicht zu erfüllen.

Arbeitsbedingungen nach Wunsch für Zeitarbeitskräfte …
Zeitarbeitsfirmen locken Arbeitskräfte gezielt mit Bedingungen, die die Träger nicht bieten können: neben höheren Gehältern z. B. damit, keine Wochenend-, Spät- oder Nachtdienste oder unliebsame Arbeiten übernehmen zu müssen. Das geht zu Lasten des Stammpersonals, das gezwungen ist, die unattraktiveren Arbeitszeiten und Mehrarbeit abzudecken.

… Mehrbelastung und Frust beim Stammpersonal
Festangestellte Pflegekräfte müssen Zeitarbeitskräfte in den Arbeitsablauf integrieren und einarbeiten. Oft fehlt es an Planungssicherheit, weil Zeitarbeitskräfte nicht erscheinen – von der Zeitarbeitsfirma aber kein Ersatz gestellt werden muss. Das Stammpersonal übernimmt so zusätzliche Aufgaben und Nacharbeiten, was zu Frustration und Spaltung in der Belegschaft führt.

Personalnot verschärft sich weiter
Dadurch wandern wiederum Festangestellte in die Zeitarbeit ab (laut Bundesagentur für Arbeit 2018 rund 12.000 Pflegekräfte, 2022 schon 17.000). Durch teilweise aggressives Abwerbeverhalten inklusive hoher An- und Abwerbeprämien belasten Zeitarbeitsfirmen den ohnehin angespannten Arbeitsmarkt. Obwohl sie – im Gegensatz zu den Trägern – keine Umlage für die Ausbildung von Pflegekräften bezahlen, werben sie auch frisch examinierte Auszubildende ab. Personalakquise und -rückgewinnung wird den Trägern auf diese Weise zusätzlich erschwert. Das gefährdet nicht nur die Fachkräftesicherung, sondern auch die Versorgung.

Versorgung mit Pflegeplätzen ist gefährdet
Wegen des Fachkräftemangels und des zunehmenden Einsatzes teurer Zeitarbeitskräfte belegen viele Pflegeeinrichtungen Betten trotz großer Nachfrage nicht mehr, um alle Bewohner durch Stammpersonal zu versorgen. Langfristig müssen einige Einrichtungen oder ambulante Dienste schließen. Viele Familien finden keinen Pflegeheimplatz für ihre Angehörigen mehr.

Fazit
Zeitarbeit in der aktuellen Form sorgt im ohnehin gebeutelten Gesundheits- und Sozialbereich für zusätzliche Unwucht. Die Konsequenzen sind schwerwiegend: für Träger die hohen, nicht refinanzierbaren Kosten, für das Stammpersonal Mehrbelastung und Frustration, für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mangelnde Pflegequalität, gesellschaftlich eine verschlechterte Versorgung.

Lösungsansätze
Das Problem sind die ungleichen Voraussetzungen: Die tarifgebundenen Träger agieren in einem stark reglementierten Sektor, während die nicht reglementierten Zeitarbeitsfirmen frei walten können. Das führt zu Fehlanreizen. Beide Systeme – tarifgebundene Träger und Zeitarbeitsfirmen – müssten aneinander angeglichen werden, was Kosten, Refinanzierung, Qualität und Versorgung betrifft, damit zumindest fairer Wettbewerb möglich ist. Damit sollte Zeitarbeit auf ihre eigentliche Funktion als flexibles Instrument bei Personalengpässen zurückgeführt werden. Solange Einrichtungen auf Zeitarbeit angewiesen sind, muss sie allerdings refinanziert werden.

Forderungen der Träger an die Politik: Bitte handeln Sie jetzt!
Politische Gestaltungskraft ist gefragt, damit sich die Personal- und Versorgungssituation in der Pflege durch Fehlanreize und -entwicklungen bei der Zeitarbeit nicht weiter verschärft. Daher haben wir Politikerinnen und Politiker aus dem Gesundheits-/Sozialbereich aufgefordert, sich einzusetzen für die Angleichung der Bedingungen, zu denen Träger und Zeitarbeitsfirmen arbeiten – damit Entlastung und fairer Wettbewerb möglich bleiben:

Vergleichbare Kosten
– Deckelung der Zeitarbeitskosten
– Vollständige Refinanzierung der Mehrkosten für Zeitarbeit im Pflegebudget

• Verpflichtung zu Schichtdiensten und Notfallbereitschaft (24/7)

Vergleichbare Aufgaben Dokumentation, Pflegeprozess darstellen, Umfeldpflege etc.

Vergleichbare Qualitätsstandards
– Überprüfung der Fachlichkeit von examinierten Pflegekräften durch staatliche Stellen
– Minimalqualifikation in Pflege und Sprache (z. B. mind. dreimonatiges Pflege-Praktikum, B2)

Regressverpflichtung bei nachgewiesenem Verschulden durch Zeitarbeitskräfte

Schadensersatz Personeller Ersatz, wenn Zeitarbeitskräfte Dienst nicht antreten

• Beteiligung an Ausbildungsumlage

Erleichterte Übernahmen von Zeitarbeitskräften in eine Festanstellung

Personalpools ermöglichen und refinanzieren

Diese Forderungen haben wir der Politik übergeben. Auch die Diakonie Deutschland versucht das Thema im Gesetzgebungsverfahren bei der Pflegegesetz-Novelle einzubringen. Hoffen wir, dass die vielen Stimmen nicht ungehört bleiben und sich etwas tut. Wir berichten weiter!