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Hauszeitschrift

Weihnachtserzaehlung

23. Dezember 2024

Mein Vater war, na ja, nicht verrückt, vielleicht ein bisschen verrückt. Oder besser gesagt, er hatte manchmal verrückte Ideen. Von einer möchte ich erzählen. Ich, ich heiße Käthe. Damals war ich noch das Käthchen. Damals, 1968, als ich sieben Jahre alt war. Es war am Morgen des Heiligen Abends. Ein Heiliger Abend wie im Bilderbuch. Es hatte in der Nacht wieder geschneit und wir erfreuten uns einer prächtigen Winterlandschaft. Oma, Papas Mama, war schon angereist. Sie kam immer schon am 23. Dezember, und wenn sie da war, war alles anders. Sie brachte nämlich, neben ihrem Koffer und den Taschen, die weihnachtliche Stimmung mit. Sobald sie aus dem Zug gestiegen war im Bahnhof in Düren, war Weihnachten zum Greifen nah.

Meist holten wir sie gemeinsam ab, Mama, Hans und Josephine, meine beiden älteren Geschwister, und ich natürlich. Für Papa war kein Platz mehr in unserem VW-Bus, denn die dritte Bank war ausgebaut. Er erwartete uns dann freudig zu Hause mit Flocki, unserem weißen ungarischen Hirtenhund. Der Name Flocki stammt aus der Zeit, als er noch klein war und er uns an eine Schneeflocke erinnerte. Klein, weiß und süß. Später war er dann groß, weiß und süß. Und lieb und schlau Unser Zuhause war ein Häuschen am Rand eines kleinen Dörfchens, fünf Kilometer von Düren entfernt.

Und immer, wenn wir mit Oma eintrafen, gab es, noch bevor sie ihren Koffer auspackte, erst einmal einen Kakao mit Marmorkuchen. Marmorkuchen, den Oma mitbrachte und den wir Kinder uns jedes Jahr so sehr von ihr wünschten. Sie machte nämlich den besten Marmorkuchen der Welt. Da waren wir drei Kinder uns einig. Außerdem waren wir uns einig darin, dass es keine bessere Oma geben konnte. Der nächste Morgen, also der Morgen des 24. Dezembers, lief so ab wie alle 24. Dezember vorher, an die ich mich erinnern kann.

Alles war normal. Oma und Mama werkelten erzählend in der Küche, Papa brasselte noch dies und das, stellte den Christbaum im Wohnzimmer auf, holte auch den Christbaumschmuck und die Krippe mit ihren tausend Figürchen aus dem Keller und wir Kinder hüpften in aufregender Erwartung etwas ziellos von da nach dort und wieder von dort nach drüben. Nur ins Wohnzimmer durften wir nicht. Alles war also an diesem 24. Dezember 1968 wie in jedem Jahr, bis, ja bis Papa auf einmal aus dem Wohnzimmer kam und Mama fragte, wo denn die Christbaumkerzen abgeblieben seien. Er sei sich sicher, gestern noch zwei Pakete in der Hand gehabt zu haben.

Nun ging die große Suche los. Wir Kinder waren endlich beschäftigt, denn ein Baum ohne Kerzen – unvorstellbar! Wir suchten alles ab. Sogar ins Wohnzimmer durften wir noch mal. Dafür hatte Papa eigens den Christbaum und die Krippe mit Betttüchern abgedeckt. Kein Kissen, das wir nicht in der Hand gehabt hätten. Sofaritzen, Telefonregal, Keller, sogar in der Waschküche schaute Hans nach. Er meinte nämlich, Erwachsene täten manchmal Dinge, von denen sie gar nicht wüssten, dass sie sie tun. Aber auch dort wurde Hans nicht fündig.

Schließlich meinte Papa: „Schluss, aus! Wir fahren nochmal los!“ Im Dorf wären keine Kerzen mehr zu kriegen, denn die Geschäfte hätten bereits geschlossen, „aber in Düren“, so Papa, „könnten wir vielleicht noch Glück haben.“ Also zogen wir Kinder uns an, denn Papa war nicht gewillt, die Christbaumkerzen-Einkaufstour allein zu bestreiten. Dicker Schal, Mütze, Handschuhe, Winterstiefel, was ein Brimborium, wenn sich drei Kinder für einen richtigen Wintertag auszustatten hatten.

Es war so gegen Eins, als wir in unser Büschen stiegen. Auch Flocki war dabei. Papa musste langsam fahren, denn die winterlichen Straßen waren an manchen Stellen ziemlich glatt und es schneite auch bereits wieder. Bis Düren war es gar nicht mehr weit, als Papa plötzlich einen Parkplatz gleich neben der Landstraße ansteuerte. Er habe da etwas Merkwürdiges gehört. So stieg er aus, wobei er schon halb im Schnee zu versinken drohte, begutachtete das Auto von außen und kam mit folgender Botschaft zurück: „Plattfuß.“

Plattfuß hieß, dass eines unserer Räder einen Platten hatte, was für uns Kinder zunächst nicht beunruhigend war. Die Tragweite wurde uns erst klar, als Papa uns zum Aussteigen aufforderte. „Was?! Aussteigen?! Jetzt?! Nach Hause?! Aber das ist zu weit! Und was ist mit den Kerzen?!“ Es gab eine Mischung aus Verzweiflung, Entrüstung und Enttäuschung. Nur Flocki schien begeistert zu sein. Er sprang gleich wie wild aus dem Auto in den Schnee, hin und her und her und hin. Tja, und Papa? Er stand da, mit einem Hund, der sich freute und mit drei Kindern, die die Welt nicht mehr verstanden, die meinten, dass alle Ungerechtigkeit der Welt über ihnen hereingebrochen war.

Nach langem Zetern und dem Austausch aller nur erdenklichen Argumente waren wir bereit, den Heimweg anzutreten. Gut, dass wir den Schlitten dabeihatten. Ein glücklicher Zufall, denn unsere Rodelstrecke lag eigentlich direkt neben unserm Haus und der Schlitten höchst selten im Auto. Papa schulterte den Schlitten und gemeinsam stapften wir los durch den tiefen Schnee des Parkplatzes, der, mit Ausnahme der Spuren unseres Autos, gänzlich unberührt war. Schon nach wenigen Metern spürten wir, wie der Schnee sich durch sämtliche Ritzen unserer Schuhe und unserer Kleidung zwängte.

Papa sagte nur: „Macht es wie Flocki, freut euch des Lebens. Ihr könnt gegen den Schnee ankämpfen oder es sein lassen. Am Ende kommt doch nur dasselbe heraus. Wir werden nass sein und frieren. Nass ist nass und kalt ist kalt, das war‘s dann aber auch schon. Schlimmer wird‘s nicht. Und in einer guten Stunde sind wir wieder zu Hause und wärmen uns auf.“

Ja, so war Papa. Hans und Josephine konnten seinen Worten zumindest ein bisschen abgewinnen. Mir kam das gar nicht in den Sinn, zumal ich als Kleinste manchmal fast bis in den Schritt im Schnee versank. Ich heulte bloß vor Wut über die Tragik der nicht abwendbaren Begebenheit. Nach etwa zehn Minuten erreichten wir endlich einen Weg, der die Benutzung des Schlittens ermöglichte.

Ich durfte mich setzen, während Hans gemeinsam mit Josephine und Papa sich beim Ziehen des Schlittens abwechselten. Oder besser gesagt: die meiste Zeit zog Papa. Nach einem Drittel des Weges sagte er plötzlich: „Kommt, wir spielen »Ich sehe was, was du nicht siehst.« Ich fange an: Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist … weiß.“ Da musste selbst ich lachen. Von diesem Moment an war unser aller Stimmung wie ausgewechselt.

Bald stellten wir uns vor, wir seien auf einer Winter-Expedition. Wir fanden unglaublich viele Tierspuren im Schnee, überlegten gemeinsam, um welches Tier es sich diesmal handeln könnte. Papa erzählte uns, warum die Tiere im Winter nicht so sehr frieren müssten wie wir Menschen und warum Flockis Winterfell nicht die Güte des Winterfells eines Fuchses hätte. Auch Flocki, als er seinen Namen vernahm, schien aufmerksam zuzuhören. Wieder mussten wir lachen, nahmen ihn in unsere Mitte und knuddelten und drückten ihn von allen Seiten.

Weiter erklärte uns Papa, wie die Jahresringe im Stamm einer Fichte entstehen würden, warum sich harte, dunkle Ringe mit weichen, hellen abwechselten und wofür die Tannenzapfen gut und wichtig seien. Auch zeigte er uns, wie wir selbst bei größter Kälte für warme Hände sorgen könnten. So führte uns unsere Expedition nach Hause, kaum, dass wir die Kälte noch bemerkten. Ja, so war unser lieber Papa.

Zuhause angekommen, überschlugen wir uns förmlich, Mama und Oma zu berichten, was uns passiert war, was wir aber auf dem Rückweg alles gesehen hatten. Oma fand dies toll. Nichts sei wichtiger, als sich die Welt anzusehen und das Kostbare in ihr zu suchen. „Dafür wurden uns die Augen und das Herz geschenkt.“ Das sagte sie in ihrer besonnenen, weisen Art, beinahe beiläufig. Beiläufig und doch auf geheimnisvolle Weise eindringlich. Eindringlich und unvergesslich.

Über unserem großen Abenteuer war bei uns Kindern völlig in Vergessenheit geraten, was der eigentliche Ausgangspunkt dieses jetzt schon so erlebnisreichen Tages war. Es war Heiliger Abend. Und da war doch noch was. Kerzen! Es fehlten die Kerzen! Mit einem Mal trat dieses Dilemma wieder in den Mittelpunkt unserer Gedanken, nämlich als Papa uns Kinder fragte, ob wir denn wirklich alles abgesucht hätten. Sie müssten doch irgendwo sein! Dann musste Papa plötzlich einen Geistesblitz gehabt haben in dem Moment, in dem er Flocki dabei zusah, wie der sich gerade über einen ausgedienten Hausschuh hermachte.

„Flocki?! Vielleicht hat ja Flocki die Kerzen gemopst. Seht doch mal bei Flocki im Körbchen nach! Bestimmt hat er sich die zwei Pakete unter den Nagel gerissen.“ Und tatsächlich! Unter seiner Decke im Korb, da lagen sie, völlig unschuldig. Wir drei Kinder schimpften mit Flocki, der die Schimpfe geradezu hocherfreut und schwanzwedelnd entgegennahm und sich für diese besondere Art der Zuwendung zu begeistern schien. Wie auch immer, der Fall war gelöst, Weihnachten durfte jetzt kommen!

Nun mussten wir drei nur noch der Reihe nach durch die Badewanne geschleust werden, um uns richtig aufzuwärmen. Schließlich, so sagte Papa, müsse Weihnachten ja so richtig kuschelig sein. Und dann? Dann standen wir erwartungsvoll vor der verschlossenen Wohnzimmertür. Alle, außer Mama, bis das Christkind die Glöckchen läutete und Mama von innen die Tür öffnete. Leider hatten wir das Christkind auch in diesem Jahr wieder knapp verpasst. Doch es sei sehr in Eile gewesen, sagte Mama, ließe uns alle aber ganz, ganz lieb grüßen.

So standen wir eine ganze Weile, wie wir es immer taten, ruhig, staunend und beglückt vor dem geschmückten Baum mit seinen silbrig schimmernden Kerzen, ehe Papa sich das Weihnachtsbuch nahm. „Käthchen,“ sagte Papa, „bevor ich vorlese, schaust du noch mal gerade in der Krippe nach, ob das Jesuskindchen wirklich warm genug eingepackt ist? Es ist ja ziemlich kalt heute.“ Ich sah nach und verließ Weihnachten für einen kurzen Augenblick, um aus meinem Puppenhaus schnell noch eine Decke zu holen.

Als ich das Jesuskind gut eingemummelt hatte, waren wir alle beruhigt und Papa konnte mit dem Lesen der Weihnachtsgeschichte beginnen. Danach hatte Mama noch einen Wunsch. „Sollen wir heute einmal unser erstes Lied für all diejenigen singen, die das Weihnachtsfest nicht wie wir in einer warmen Stube feiern können? Wir können ihnen ja zumindest wärmende Wünsche zuschicken.“

Bei dem Gedanken, dass tatsächlich genau jetzt jemand draußen sein könnte, erinnerten wir Kinder uns sekündlich an die Kälte, der wir vorhin noch so schutzlos ausgeliefert waren. Nicht nur „Ihr Kinderlein kommet“, sondern auch alle weiteren Lieder widmeten wir den Leuten, die heute kein Zuhause hatten. Danach aber konnten wir richtig feiern und uns über die Geschenke hermachen. Und lecker wurde es schließlich auch noch. Tja, so war es. Damals, an Weihnachten 1968.

Viele, viele Jahre später saßen wir am Mittag des zweiten Weihnachtstages mal wieder alle gemeinsam mit Kind und Kegel zusammen, diesmal bei meinem Bruder Hans zu Hause. Meine Eltern waren inzwischen selbst schon Uroma und Uropa. Gerade hatten wir gegessen, da kamen wir irgendwie auf das Thema „Christbaumkerzen“. Hans fiel als Erstem unser damaliges Erlebnis mit den verschwundenen Christbaumkerzen ein, er sprach als Erster von dieser besonderen Weihnacht 1968.

Nach und nach erzählten wir uns unter teilweise großem Gelächter, was unser Gedächtnis zu diesem besonderen Heiligen Abend noch alles zu Tage brachte. Mehr und mehr lebte die Geschichte wieder auf. Wir mussten wirklich sehr lachen. Doch das Gelächter verstummte, als meine Mutter meinte, dass der Schlitten damals nicht rein zufällig im Auto gelegen hätte. „Wie, was heißt: nicht rein zufällig?! Was meinst du mit »nicht rein zufällig«?“ Sie fuhr fort: Es habe auch nie einen Platten gegeben und Flocki hätte mit dem Verschwinden der Kerzen überhaupt nichts zu tun gehabt.

Ob hochgezogene Augenbrauen, Stirnrunzeln oder ein geöffneter Mund, ich erinnere mich nicht im Einzelnen, aber die Mimik von uns dreien veränderte sich schlagartig und machte glauben, dass hier gerade drei Geschwister, reich an Lebenserfahrung, an einem noch nicht abgedeckten Mittagstisch einer gewaltigen Offenbarung entgegenfieberten. In die kurze Stille hinein fing Mama an zu erzählen, wie es wirklich war, welche Geschichte sich tatsächlich hinter dieser Geschichte verbarg. Ich merkte, wie sich die Tränen in meinen Augen fast bis zum Überschwappen sammelten.

Dann erkundigte sie sich bei uns dreien, ob wir uns zufälligerweise noch an diesen einen Satz von Oma erinnern könnten. „Nichts ist wichtiger, als sich die Welt anzusehen und das Kostbare in ihr zu suchen.“ Und tatsächlich, wir alle konnten uns an diesen Satz erinnern. Nicht nur erinnern, er hatte sogar für jeden von uns eine gewisse Prominenz erlangt. Ich möchte fast sagen, er war Teil unserer eigenen Lebensphilosophie geworden. Unser Staunen darüber, dass in uns allen dreien, so unterschiedlich wir auch waren, diesem einen Satz diese besondere Bedeutung zukam, war riesengroß.

Auch meinen Vater musste er durchs Leben geführt haben, ihn, der sich leider an diesem Gespräch nicht mehr beteiligen konnte, der aber freundlich lächelnd mitten unter uns am Tisch saß. Papa wollte uns Kinder stets das Sehen und Fühlen lehren. Und da hatte er genau an Weihnachten 68 diese verrückte Idee ausgepackt, uns in die Kälte zu schicken. Hätten wir die Wärme des Weihnachtsfestes damals so intensiv erleben können, ohne kurz vorher dieser trostlosen Situation – mit dem Platten und diesem Heimweg in der Kälte – ausgeliefert zu sein? Und wie hätte man von Herzen dankbar für ein warmes Zuhause sein können ohne die leiseste Idee vom Leben im Winter auf der Straße?

Ihm lag viel daran, dass Menschen sich ihrer Augen bedienen, so wie es schon Oma getan hatte. Und genau das erhoffte sich Papa auch von seinen „drei Liebsten“, wie er uns Kinder so gerne nannte.
© Gabriel Lonquich