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Hauszeitschrift

Pflegebeduerftigkeit vorbereiten

06. Januar 2025

Psychologe Georg Salzberger berichtet von einem Erlebnis in seiner Verwandtschaft, das ihn sehr beeindruckt hat. Sich auf die Pflegebedürftigkeit vorbereiten – wer macht denn sowas und warum sollte man überhaupt?

Zurzeit liest und hört man viel darüber, wie sich das Alter hinauszögern lassen soll. Die Techmilliardäre aus dem Silicon Valley geben Unsummen aus, um nicht nur das Alter, sondern direkt auch die Sterblichkeit zu besiegen und wähnen sich auf gutem Weg.

Wenn das Alter morgen schon besiegt sein wird und wenn sich zeigt, dass das Alter nur eine soziale Konstruktion ist und kein biologisches Fundament hat, wenn morgen schon die Unsterblichkeit wartet, dann sind Versuche, sich auf das Alter vorzubereiten und Dinge zu regeln, die man dann nicht mehr selbstständig regeln kann, albern und überflüssig.

Allerdings bin ich nicht alleine der Ansicht, dass sich auch dieses Mal die Biologie nicht besiegen lässt und dass die Erhebung des Menschen über die Natur hybrid ist, unnötig Energie verbraucht und die Menschen davon abhält, ihr Leben zu leben. Wer sich für das Altern und Strategien für ein gutes Alter interessiert, lese das just erschienene Buch des Nobelpreisträgers Venki Ramakrishnan, „Warum wir sterben. Die neue Wissenschaft des Alterns und die Suche nach dem ewigen Leben“.

Die einzig wirksamen Mittel, das Leben ein bisschen zu verlängern, sind die bekannten, ungemütlichen Dinge wie viel Bewegung, gesunde Ernährung, viel Schlaf und weder Alkohol noch Nikotin. Ansonsten bleibt das Alter auch bei guten Genen eine Art von Krankheit, die tödlich verläuft. Die vermeintliche Verjüngung ist kosmetisch bedingt, macht viel Arbeit und ist wie ein Krieg gegen den eigenen Körper.

Warum berichte ich davon? Die vielen Versuche, das Alter zu besiegen oder es zu leugnen oder es zu übermalen verhindern etwas, was im Alter viel wichtiger ist und was sowieso gerne unterlassen oder herausgezögert wird, nämlich eine gute Vorbereitung auf die nicht immer prickelnden Gegebenheiten im höheren Alter. Mein Vater, als Notar am Niederrhein ständig mit der Beurkundung von Testamenten beschäftigt, hat sein eigenes gerade mal zwei Wochen vor seinem Tod gemacht.

Zwei gute Freunde, beide Mediziner, haben trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch keine Patientenverfügung. Auch ansonsten beobachte ich, dass viele Menschen davon sprechen, man müsste endlich mal eine Verfügung für die Eventualitäten des Alters machen, aber es vor sich herschieben. Das erinnert mich an Menschen in Madagaskar, die eine Krankenversicherung ablehnen, weil diese ja, wenn man sie abschließe, die Krankheiten erst anziehen würde. Genauso magisch verhält man sich, wenn man meint, durch das Aufschieben von Vorsorge das Unglück namens Alter abwenden zu können. Dass es auch anders geht, davon will ich hier berichten.

Vor gut einem Jahr erhielten wir eine Nachricht aus einem Krankenhaus, in das eine Tante meiner Frau just eingeliefert worden war. Die hatte kurz vorher noch eine Besuchsanfrage unsererseits abgelehnt, sie müsse vorher noch einiges erledigen und vor allem ihren Arzt aufsuchen. Sie wirkte am Telefon dabei wie immer, berufsbedingt achtete ich auf Anzeichen von altersbedingten Veränderungen, gerade was die Kognition anging. Jetzt aber, kurz vor ihrem 84. Geburtstag, trafen wir im Krankenhaus eine deutlich verwirrte und offensichtlich bereits fortgeschritten demente Frau an.

Sie freute sich, uns zu sehen und erzählte, dass sie sich kurz erholen müsse, sie sei zu Hause gestürzt. Dass die Demenz bereits im fortgeschrittenen Stadium war, erkannten wir daran, dass sie offensichtlich nicht unter ihrer Desorientierung litt. Wir hatten ein schlechtes Gewissen, da wir diese Entwicklung nicht mitbekommen hatten und wussten noch nicht, dass ihre Demenz einen schnellen, ja rasanten Verlauf nahm, sie starb bereits ein Jahr später und damit eine Woche nach ihrem 85. Geburtstag.

In ihrer Wohnung sahen wir, dass sie dort einige Tage hilflos verbracht haben musste, bevor eine Nachbarin für die Krankenhauseinweisung gesorgt hatte. Aber neben einem kleinen Chaos fanden wir einen gut sichtbaren Ordner mit der Rückenbeschriftung „Notfallordner“. Und darin befanden sich alle möglichen Dokumente für alle möglichen Tatsächlichkeiten: Wo ist was? – Woran muss gedacht werden? – Was darf nicht vergessen werden? Darüber hinaus nicht nur ein Testament, sondern eine sehr konkrete und detaillierte Patientenverfügung und auch genaue Verfügungen, was zu passieren hat, wenn sie pflegebedürftig werden sollte und nicht mehr selbst über sich entscheiden kann.

Dass sich jemand mit einer eventuellen Pflegebedürftigkeit im Vorfeld auseinandersetzt und Tante Bärbel und ihre Nichte im Altenheim in Bad Godesberg dabei auch das Thema Pflegeheim mitberücksichtigt, habe ich noch nicht erlebt. Auch ihre Betreuung hatte sie bereits im Vorfeld geregelt und dafür mit einem katholischen Betreuungsverein ein Vorgespräch geführt. Und sie hatte festgelegt, dass sie gerne in ein Pflegeheim in katholischer Trägerschaft ziehen wollte. Auch, wie mit ihren Habseligkeiten umzugehen ist, hatte sie niedergelegt. Sie erwähnte, dass sie es zu bescheidenem Wohlstand gebracht habe. Sie erfreue sich an vielen Dingen, aber sie wisse auch, sie könne nichts mitnehmen.

Erst kürzlich las ich den schönen Essay, in dem Elke Brüns über unser Verhältnis zu den Dingen nachdenkt (Dinge. Warum wir sie brauchen und warum wir uns von ihnen trennen müssen). Eine Hauptthese geht davon aus, dass sich in unserem Umgang mit den Dingen „Prozesse der Verlebendigung und der Verabschiedung“ vollziehen, in denen sich unser „Leben als permanenter, kaum reflektierter Austausch mit dem Tod spiegelt“.

Wer den Essay liest, versteht noch besser, warum viele Menschen sich so ungern mit Fragen das Lebensende betreffend auseinandersetzen. Und ich verstand einmal mehr, wie besonders und ungewöhnlich es war, dass sich die Tante meiner Frau mit dem hohen Alter und dem Lebensende auseinandergesetzt hatte. Da wir die Tante, die immer ein sehr selbstständiges Leben geführt hat, als Lehrerin durchgängig berufstätig war, nur sporadisch besucht hatten, waren wir überaus erfreut, dass wir jetzt, wo schnell klar war, ein Zurück in ihre Wohnung kam nicht mehr infrage, uns an ihre vorher festgelegten Wünsche halten konnten.

Es ist eine Erleichterung, nicht über den Kopf hinweg Entscheidungen zu treffen, sondern zu wissen, so hat sie sich ihr pflegebedürftiges Alter vorgestellt und so hat sie sich die Umstände gewünscht. Gerade für meine Frau, die kurz vorher bereits ihre Tante mütterlicherseits auf ihren letzten Lebensjahren begleitet hat und dabei viel Energie darauf verwendet hat, zu helfen, obwohl Hilfsbedürftigkeit geleugnet wurde, war es eine wirkliche Erleichterung. Und auch dafür lohnt sich eine solch genaue Vorsorge für das hohe Alter, welches bekanntlich nicht selten von Krankheiten und gar von Demenz begleitet ist.

Wie wir im weiteren Verlauf feststellen konnten, hatte diese Vorsorge womöglich auch dazu beigetragen, ein wirklich zufriedenes Jahr in einem Altenheim in Bonn zu verbringen, dass wie ihre Wohnung in Bonn-Beuel nahe dem Rhein liegt. Das war zunächst für uns noch nicht absehbar. Wie gesagt, litt sie offensichtlich nicht unter ihrer rasant zunehmenden Desorientierung, wusste aber sehr wohl, dass sie nicht zuhause, sondern im Krankenhaus war.

Dass irgendwas nicht stimmen konnte, erkannte sie auch daran, dass meine Frau und ich in reichlich kurzen Abständen „auf der Matte standen“, das war neu und ungewöhnlich. Sie stimmte direkt zu, als die inzwischen tätige Betreuerin für sie einen Heimplatz gefunden hatte. Dort lebte sie sich schnell ein, war, vermutlich aufgrund ihrer Zufriedenheit, sehr beliebt und allseits gemocht.

Wichtiger als die starke Religiosität, die sie ihr Leben lang gepflegt hatte und die im Rahmen ihrer Demenz ganz in den Hintergrund trat, wichtiger als die Rückkehr in ihre Wohnung schien ihr zu sein, dass ihre, natürlich ebenfalls hochbetagten Freundinnen sie besuchten, bzw. ihr mit häufigen Postkarten und Briefen signalisierten, nicht allein zu sein. Kleinere Spaziergänge in der Umgebung, gutes Essen, dass man nicht selbst zubereiten musste – sie hatte das Kochen nie besonders geschätzt und kam Zeit ihres Lebens mit zwei Kochplatten aus – das reichte ihr, um zufrieden zu sein. Wir haben uns oft gefragt, ob diese Zufriedenheit „echt“ war oder nicht vielleicht der Tendenz, keinem zur Last fallen zu wollen, geschuldet sein könnte, aber es sprach alles dafür, dass sie selbst ihre Pflegebedürftigkeit wie auch ihren Verlust an Orientierung akzeptieren konnte.

In der psychologischen Gerontologie wird seit längerem diskutiert, ob es auch individuelle Faktoren gibt, die es Menschen ermöglicht, weniger hadernd, weniger depressiv mit Pflegebedürftigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeit und womöglich sogar mit besagtem Orientierungsverlust zu leben. Das ist auch deshalb eine knifflige Frage, als durch die Demenz natürlich auch die Bewältigungsstrategien, die Coping-Strategien, wie wir Psychologen sagen, betroffen sind.

Also genau das, was eventuell helfen kann, Hilfsbedürftigkeit und Orientierungsverlust zu bewältigen. Bei der Tante meiner Frau war es jedenfalls offensichtlich, dass sie mit besonderer Gelassenheit, mit viel Vertrauen darin, dass man ihr hilft und sie dabei gut behandelt wird, und mit hoher Akzeptanz ihrem Lebensende und dem zunehmend dunkleren Weg dahin entgegenging. Vielleicht war es auch ihre Religiosität, die sie dabei unterstützte, etwas, was niemand handelnd mehr ändern kann, hinnehmen zu lernen.

Die Fähigkeit, mit Verlusten umzugehen, gehört in unserer Kultur, wo alles machbar sein soll, bekanntlich nicht zu den Stärken, ist sogar als Verlierermentalität verschrien und abgewertet. Dabei erleben auch wir „Selbstverwirklicher“ ständig Situationen, in denen man Verluste hinnehmen muss. Das ständige Ändern und Machen, der permanente Willen, sich die Wirklichkeit gefügig zu machen, Herr seines Schicksals zu sein, ist immer auch eine kämpferische Haltung, eine Gegnerschaft sogar zu Welt und Leben.

Manchmal ist die radikale Akzeptanz (ein psychologischer Begriff, der ursprünglich dem Zen-Buddhismus entlehnt ist) einer Wirklichkeit, die einem nicht passt, die klügere Haltung. Jedenfalls verfügte Tante Bärbel darüber in besonderer Weise. Und meine Frau und ich, die sich hin und wieder über die überbordende Religiosität der Tante mokierten, lernten neben der großen Freundlichkeit und Herzlichkeit, die sie auszeichnete, eine Seite an ihr kennen, die wir nur bewundern konnten.

Und wir erinnerten uns auf einmal daran, dass sie sich bereits früh auf das Alter vorbereitet hatte. Ob es das Autofahren war, dass sie frühzeitig eingestellt hat, obwohl ihr das immer wichtig war, oder die Überlegungen dazu, dass ihre Eltern eine Phase der Hilfsbedürftigkeit vor ihrem Tod hatten und sie das beschäftige, es gab viele kleine Anzeichen, dass sie sich aktiv mit dem Altwerden und Altgewordensein auseinandergesetzt hatte.

Und auch hier zeigt ein Blick in die Psychologie, dass zur Vorbereitung unbedingt das Antizipieren gehört, das heißt, sich möglichst realistisch und leibhaftig vorzustellen, in welche Situationen man geraten kann und wie man annimmt, dass man selbst zum Beispiel auf Hilfsbedürftigkeit reagieren wird. Selbst den Orientierungsverlust, den man im Rahmen einer Demenz erlebt, kann man versuchen, sich vorzustellen, da wir alle eine Zeit kennen, in der wir noch nicht orientiert waren, nämlich als Kinder.

Als Kind kann man die mangelhafte Orientierung übrigens meist gut aushalten, weil einem die Eltern Sicherheit geben. Ganz ähnlich konnte die Tante meiner Frau den Orientierungsverlust verschmerzen, wohl auch, weil sie sich in guten Händen wähnte. Dr. Georg Salzberger