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Hauszeitschrift

Lebensbilder Teil 6

10. April 2024

(„Schwimmend in die freie Welt“ – Auszug aus der Biografie von Ulrike Rieke)

Geboren bin ich 1941 in Köln-Mülheim, aber dieses Bild hier ist im Kindergarten von Waldheim in Sachsen aufgenommen worden. Nachdem der Bombenkrieg immer heftiger in Köln geworden ist und wir auch schon mal für ein paar Tage im Mülheimer Luftschutzkeller verschüttet waren, haben wir bei Verwandten in Sachsen Unterschlupf gefunden, genauer gesagt mein Opa, meine Mutter und ich. Mein Vater, der eigentlich Werkzeugmacher war, musste mit der ganzen Belegschaft von Köln nach Tschechien, um dort Waffen und Munition herzustellen. (…)

Waldheim war eine hübsche kleine Stadt mit vielen alten Gebäuden und einer schönen Landschaft. Aber natürlich wollten wir auch auf Druck der Russen so schnell wie möglich zurück in die alte Heimat. Mit einem Güterzug, in dem unser Gepäck geklaut wurde, sind wir dann erstmal nach Friedland in Richtung Westen gefahren. Dort stand damals alles unter Wasser und war teilweise eingefroren. Ich musste mich immerzu kratzen, meine Mutter meinte, das sei bloß wieder eine Marotte von mir, aber dann hat man im Lager doch festgestellt, dass ich Kleiderläuse und dann auch noch Kopfläuse hatte. Es dauerte noch einige Wochen, bis wir von Friedland nach Köln weiterfahren konnten, wo uns in der Mülheimer Bleichstraße ein total ausgebombtes Gebäude erwartet hat. Zum Glück kamen wir notdürftig bei einem Onkel in Höhenhaus unter, der neben seinem Haus im Wald noch eine Art Bretterbude hatte. Mein Vater kam erst eine ganze Zeit später aus dem Krieg zurück, weil die komplette Firma in Tschechien verhaftet und gefangen genommen worden ist. Wir wussten alle nicht genau, was mit ihm passiert war. (…)

Mit meinem Vater habe ich mich prima verstanden, das Verhältnis zu meiner Mutter war eher schwierig. (…) Mein Vater war da ganz anders, nahm sich viel Zeit für mich, ging gerne mit mir im Wald spazieren, erklärte mir Pflanzen und Tiere und brachte mir Schwimmen, Radfahren und sogar Tanzen bei. (…) Mein Vater hat dann zusammen mit anderen Männern 1951 ein Haus in einer bei Nacht und Nebel gerodeten Waldfläche bei Höhenhaus gebaut, wobei „gebaut“ übertrieben klingt. Denn keiner war da so richtig vom Fach, und jeder hat sich da was aus alten Ziegeln und Brettern zurechtgefrickelt. Als das Haus mehr oder weniger fertig war, zogen wir von der Bretterbude beim Onkel dorthin.

Das war dann schon ein kleiner Fortschritt, weil wir immerhin die ganze obere Etage dort für uns hatten. An eine Treppe hat allerdings niemand gedacht und so mussten wir immer über eine Leiter nach oben oder unten steigen (…) Das Tollste an meiner Schulzeit war der Schüleraustausch nach England, den ich mitgemacht habe, kurz bevor ich mit 14 dann regulär abgegangen bin und eine Lehre bei der AOK angefangen habe. Unser Englischkurs durfte 1955 nämlich in die englische Kleinstadt Redditch reisen und dort eine Weile bei Austauscheltern wohnen. (…) Dort bin ich zum ersten Mal auf einer Rollschuhbahn gefahren, habe Fish & Chips aus Zeitungspapier gegessen und die letzten Tage unserer Reise sind wir noch ein paar Tage in einer Jugendherberge in London gewesen, wo wir abends auch öfter mal heimlich ausgebüxt sind. (…)

Wasser war eigentlich immer mein Element. Ich bin auch nie seekrank geworden, wie zum Beispiel die meisten meiner Schulkameraden auf der Überfahrt nach Dover. (…) Schwimmen war immer das Größte für mich und das habe ich wie so Vieles meinem Vater zu verdanken. Deshalb war es für mich auch selbstverständlich, dass ich ihn die letzten Lebensjahre, so gut es ging, unterstützt habe. Mit Mitte Siebzig kam er in ein Apartment für betreutes Wohnen von der Arbeiterwohlfahrt, seine Augen wurden schlechter und er drohte zu erblinden. Ich habe dann meine Arbeitszeiten extra so angepasst, dass ich ihn nachmittags betreuen konnte. (…)

Um ihm einen alten Lebenstraum zu erfüllen, habe ich noch eine Busreise nach Paris mit ihm unternommen. (…) Nach der Volksschule mit gerade mal 14, direkt nach dem Schulaustausch in England und meiner Konfirmation, habe ich bei einer AOK-Filiale in der Mülheimer Adamstraße losgelegt. Ich bin dafür jeden Morgen mit dem Fahrrad von Höhenhaus gestartet. (…) Dass ich dabei als junges Mädchen allein mit dem Rad nach Köln gefahren bin, sogar noch durch das verrufene Rotlichtviertel vom Eigelstein, hat meiner Mutter überhaupt nicht gepasst. Genau wie die Tatsache, dass ich mir von meinem ersten selbstverdienten Geld ein Paar Schuhe mit Absatz gekauft habe. (…) Bis zum etwas vorzeitigen Ruhestand habe ich viele Jahre dort als Sachbearbeiterin gearbeitet.

Meinen Mann, der acht Jahre älter war, habe ich bei einer Namenstagfeier meiner Cousine kennengelernt. Wir waren beide gerne in der Natur und haben es geliebt, gemeinsame Ausflüge zu unternehmen. (…) Nachdem wir uns im Mülheimer Standesamt 1961 haben trauen gelassen, sind wir mit dem Motorrad auf dem Foto bis nach Texel geknattert, genauer gesagt bis nach Den Helder, haben dort unsere Koffer abgeholt, die wir vorher von Köln aus aufgegeben hatten, und sind dann mit der Fähre weitergefahren. (…)

Uns beiden waren zwar keine Kinder vergönnt, dafür haben wir viele Reisen im Laufe unserer Ehe unternommen, vor allem als Rentner. Lange Zeit haben nur wir zwei alleine Urlaub gemacht, später waren auch öfter Freunde dabei. Als Kind hätte ich nie gedacht, dass ich da eines Tages überall mal hinkomme. Unter anderem nach Florida, in die Karibik, nach Australien, Hawaii und sogar in die Südsee mit einem Kreuzfahrtschiff. Auf den Südseeinseln waren das Meer und die Palmenstrände besonders traumhaft und die Leute unglaublich gastfreundlich. (…)

Leider ist mein Mann ein paar Jahre später an Krebs gestorben. Weil es ihm und mir schon als junges Paar immer so gut in Braubach am Mittelrhein gefallen hat, fiel die gemeinsame Wahl schon vor längerer Zeit auf einen landschaftlich toll gelegenen und sehr gepflegten Friedwald in Braubach- Dachsenhausen. Dort liegt seine Urne an einem stillen Ort in wunderbarer Natur, die ihm ganz sicher gefallen würde. Schade, dass selbst engste Freunde und Verwandte das nicht verstehen konnten und sogar behauptet haben, dass ich meinen Mann weit entfernt von Köln habe verscharren lassen. Seitdem herrscht leider Funkstille. Ich habe schließlich auch meinen Stolz. Eines Tages werde ich auch selber dort liegen.

Aber vorher denke ich noch an die vielen schönen Zeiten und Erlebnisse, die wir zusammen gehabt haben.