Template: single.php
Gesellschaft

Wie kann man bei Depressionen helfen?

21. September 2023

Wenn es um die Therapie von Menschen mit Depressionen geht, muss man unbedingt zwischen dem professionellen Vorgehen von Psychiatern und Psychotherapeuten und dem Helfenwollen von Angehörigen, Zugehörigen und Freunden unterscheiden. Mit dem ich hier beginne.

Was passiert, wenn man einem depressiven Menschen gegenübersitzt? Der erste Impuls besteht darin, helfen zu wollen. Das echte Elend des Depressiven stimmt mitleidig, sodass man ihm unbedingt helfen möchte, ihn entlasten, schonen, fürsorglich sein, ihn in Schutz nehmen, ihn trösten, ihm Mut zusprechen, seine Partei ergreifen möchte. Damit ist der depressive Mensch ein idealer Partner unserer Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit, unseres Mitleids. Weshalb hier ein Irrtum seinen Anfang nimmt: Ohne dass der Depressive uns einen Auftrag erteilt hat (!), beginnen wir unreflektiert zu helfen. Sobald man aber nach den eigenen, „normalen“ Hilfs- und Trostgefühlen handelt, hat man sich von den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen verführen lassen. Womit man seinerseits von der depressiven Beziehung abhängig wird, sogar zum Mitspieler in der Depression werden kann.

In helfenden Berufen spricht man in diesem Kontext vom Helfersyndrom, was andeutet, dass hier jemand hilft, um sich selbst zu helfen. Der helfende Mensch verschafft vor allem sich selbst Erleichterung, weil das Helfen auch ein Mittel ist, das eigene Selbstwertgefühl aufzuwerten. Bei Angehörigen von Alkoholabhängigen spricht man in diesem Kontext von Co-Abhängigkeit, was auch eine Form der falsch verstandenen, sich selbst und den Anderen schädigender Hilfe ist. Der Helfende hat von der Hilfe mehr als der Depressive oder Süchtige, nämlich zum Beispiel die Anhänglichkeit und Bewunderung des Erkrankten, kann sich groß und stark fühlen. Dass diese Hilfe nicht hilft, bemerkt man spätestens, wenn man feststellt, dass sich das Mitleid nicht auszahlt (auch Mitleid ist nicht uneigennützig), dass es dem Depressiven nämlich nicht bessergeht. So kann die Hilfsbereitschaft schon nach kurzer Zeit in Wut und andere negative Gefühle dem Depressiven gegenüber umschlagen, der Helfende interpretiert die Wirkungslosigkeit seiner Hilfe als Undankbarkeit des Depressiven.

Wenn man sich als Freund oder Angehöriger mit dem Depressiven auf einen derartigen Machtkampf einlässt – er ist trostlos, man selbst hoffnungsvoll –, dann können dabei nur beide verlieren. Das Mitleid steigert beim Depressiven den Appell, die Hilfe die Hilflosigkeit, die Entlastung die Belastung, der Trost die Trostlosigkeit. Denn die Schwäche, über die der Depressive klagt, geht einher mit einer unterdrückten, gegen sich selbst gerichteten Stärke, wodurch der Depressive nicht nur sich selbst lähmt, sondern auch sein Gegenüber. Hier gilt es mühsam zu lernen, dass Mitleid und Trost zu Enttäuschung und Aggressivität führen, vom Erkrankten abhängig machen und das Depressivsein verlängert.

Die Gefahr, wenn Laien einem Depressiven helfen, liegt darin, dass dann dem Depressiven die Verantwortung für seine Depression abgenommen wird. Man suggeriert dem Depressiven, ihn wieder zu einem glücklichen Menschen machen zu können. Damit aber erschwert man dem Depressiven die Eigeninitiative, die der einzig gangbare und erfolgversprechende Weg ist.

ERGO: Das mitmenschliche Umfeld von depressiven Menschen sollte auf die Notwendigkeit von Hilfe hinweisen, ohne selbst zu helfen! Behandeln kann eine Depression immer nur der Psychiater und Psychologe, weshalb es kontraproduktiv ist, wenn Freunde und Angehörige meinen, sie müssten dem Erkrankten zeigen oder beweisen, dass das Leben doch einen Sinn hat und dass die Welt schön ist. Um diesen Clinch zu vermeiden, einige Hinweise:

Oberstes Ziel im Umgang mit depressiven Menschen ist deshalb nicht die Hilfe, sondern die Begegnung, d.h. die Ermöglichung der Selbsttherapie. Man kann nie jemanden therapieren, sondern nur zur Selbsttherapie beitragen. Entsprechend ist Anwesenheit statt Aktivität, Begleitung statt Trost wichtig. Darüber hinaus sollte man in sich selbst nach depressiven Gefühlen suchen, die man ehrlicherweise bald schon entdeckt: jeder hat zuweilen das Gefühl, es gelinge ihm nichts, ist mal ausgebrannt und grundlos niedergeschlagen, ist mal hilflos, schwächlich etc. Durch die Begegnung mit den eigenen depressiven Anteilen kann man dem Depressiven die Suchhaltung vorleben und ihn ermutigen, sich seinen depressiven Anteilen zu stellen, statt sie als krankhafte Symptome zu sehen, welche weggemacht werden sollen.

 

Therapie der Depression

Bei Depression gibt es zwei Therapiemöglichkeiten, einmal die medikamentöse Behandlung durch Antidepressiva und Psychopharmaka und zum anderen die Psychotherapie. Bevor diese Therapien allerdings zum Zuge kommen können, muss bei vielen Betroffenen die Einsicht in die Behandlungsnotwendigkeit vorhanden sein. Deshalb, siehe oben, ist es so wichtig, dass das mitmenschliche Umfeld – womöglich wiederkehrend – darauf drängt, dass der depressive Mensch sich bitte helfen lassen möge. Nach wie vor scheuen sich viele Menschen, mit Depression zum Psychiater oder Psychologen zu gehen, weil sie die Notwendigkeit einer Behandlung nicht einsehen und ablehnen.

Man spricht in diesen Fällen auch von maskierten, lavierten, somatisierten oder agitierten Depressionen: Damit ist gemeint, dass die Erkrankten vermeintlich nicht unter ihrer Depression leiden, sondern unter immer neuen, diffusen körperlichen Beschwerden. Oder sie betonen, dass nicht ihre Stimmungslage das Problem sei, sondern dass das Leben oder die Welt einem keine andere Wahl als die Depression lasse (was dann für alle Mensch gelten würde). Hier ist es oftmals ein langer Weg (ganz ähnlich wie bei Suchtkranken), bis depressive Menschen Einsicht in ihre Erkrankung haben und sich entsprechend behandeln lassen. Da Freiwilligkeit und Motivation insbesondere bei einer Psychotherapie unabdingbar sind, ist das Bekenntnis „Ich brauche Hilfe“ der erste, sehr, sehr wichtige Schritt!

Wo bei den Betroffenen die Bereitschaft, sich behandeln zu lassen, vorhanden ist, ist die Chance, die Krankheit zu überwinden, groß. Besonders wirksam ist dabei die Psychotherapie, die hat deutlich größere und vor allem anhaltendere Erfolge als die medikamentöse Behandlung. Schon seit geraumer Zeit ist für eine Psychotherapie keine Überweisung durch einen (Fach)Arzt mehr erforderlich, der psychologische (oder ärztliche) Psychotherapeut (inzwischen ein geschützter Titel, den man nur mehr durch Approbation führen darf) kümmert sich selbst um die Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Das konkrete, psychotherapeutische Vorgehen zu beschreiben, würde zu weit führen, deshalb hier nur Hinweise.

Wichtig in der Begegnung mit dem depressiven Menschen (wie mit jedem neurotischen Menschen) ist, dass es nicht das Ziel sein kann, dass der Therapeut den Erkrankten besser versteht oder einordnen kann, sondern dass der depressive Mensch sich selbst über den Umweg der therapeutischen Begegnung besser versteht. Es kann nicht das Ziel sein, dem depressiven Menschen etwas abzunehmen (das geht auch gar nicht), unter dem er leidet, sondern die Nähe und Solidarität des Therapeuten kann ihm eventuell helfen, dass er selbst tiefer in sich sucht, als er es sich bisher allein getraut hat, weil das schmerzlich ist. Dann kann der Depressive wieder eine Sprache für sein Leid finden. Sprachlosigkeit ist bei Depression zugleich Symptom und Ursache, sodass der erste Schritt zur Überwindung der Depression darin besteht, Worte und Geschichten für das Widerfahrene zu finden. Die heilenden Eigenschaften solchen Geschichtenerzählens liegen nicht nur in der Benennung, sondern auch in dem Versuch, eine überzeugende, realistische und zusammenhängende Geschichte zu finden.

Erst, wenn jemand nachvollziehen kann, wie er sich selbst (aktiv und nicht passiv) in den depressiven Zustand hineingelebt hat, kann er andere Handlungsalternativen entdecken. Das Schwierige ist, einerseits die depressive Sichtweise als gelebte Erfahrung ernst zu nehmen, aber gleichzeitig nicht aus dem Auge zu verlieren, dass in der Depression eine massive Übertreibung enthalten ist. „Mit billigen Beschwichtigungen von der Sorte ‚Übertreib’s mal nicht!’ löst man mit Sicherheit nur Wut aus, denn damit wird die Wahrheit gelebter Erfahrung beleidigt. Andererseits ist es aber auch nicht damit getan, Depressiven zur Richtigkeit ihrer Gefühle zu gratulieren. Sie werden die Mitteilung, das Leben sei eine absurde Farce und sie wenig liebenswerte Geschöpfe, schwerlich zu schätzen wissen. Jemand, der mit sich selbst ringt, möchte hören, dass er mit dem Irrtum und nicht mit der Wahrheit zu kämpfen hat. Zugleich möchte er aber auch seine Irrtümer ernstgenommen haben, sie beachtet wissen, als ob sie wahr seien“ (M. Ignatieff).

Deshalb sind die Symptome einer Depression nicht so wichtig. Der depressive Mensch wird mit dem Wunsch kommen, er möge durch die Hilfe wieder „gesund“ werden und ein leistungsfähiger Mensch. Dagegen kann der Therapeut nur dabei helfen, dass der depressive Mensch lernt, zu verstehen, warum er depressiv geworden ist. Bei diesem Königsweg gilt, dass die Depression ein Versuch ist, ein Lebensproblem zu lösen, allerdings handelt es sich um eine Lösung, die selbst zum Problem geworden ist. Grundlage ist, dass Gefühle von Angst, Enttäuschung, Schmerz, Frustration, Verunsicherung (etc.), die ein Lebensproblem signalisieren, nicht genutzt werden, sondern abgewehrt. Daher muss das Ziel der Therapie sein, dass der betroffene Mensch wieder Selbstvertrauen findet, um sich der Angst von innen zu nähern, sie zu nutzen statt sie zu verdrängen. Ein typisches Beispiel: Jemand will lieber depressiv über die eigene Bedeutungslosigkeit klagen als sich mit dem Wunsch, der Beste sein zu wollen, auseinanderzusetzen.

Beachtenswert ist zudem, dass die Betroffenen zuweilen an ihrem Leid festhalten (in der Psychoanalyse spricht man da von Widerstand), ihrer Depression quasi die Treue halten. Es gibt auch bei Leid ein Eigentumsrecht, auch wenn das in einem Umfeld, in dem Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wirklichkeitstauglichkeit als unhinterfragbare Werte gelten, komisch klingen mag. Nebenbei zeigt sich hier, wohin sich die Energie, der Ärger und die Aggression, die Mitmenschen am vermeintlich energielosen Depressiven vermissen, „zurückgezogen“ hat. Sie wird dazu verwendet, sich und andere niederzuhalten, in der Depression zu halten. Wenn man laienhaft versucht, den depressiven Menschen aus seiner Depression herauszuholen, spürt man förmlich, wie stark die Kraft des Niederdrückens ist, wie sehr der Depressive die Aggression gegen sich selbst richtet und so zur Depression wird. Mit anderen Worten sollte man immer berücksichtigen, ob der Betroffene selbst aus seiner Depression heraus will oder eben noch nicht so weit ist. Das kann manchmal für die mitmenschliche Umgebung enervierend sein, muss aber ausgehalten werden.

Wie bereits ausgeführt, gibt es nicht die eine Depression, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Depressionsformen. Ob es sich um eine eher leichtere, reaktive Depression handelt, zum Beispiel nach einem Verlust der Arbeit oder der Partnerschaft (oder gar beides), lässt sich erst im Verlauf der Therapie entscheiden. Solche Anpassungsstörungen bedürfen oftmals nur einer kürzeren therapeutischen Intervention, in denen der Betroffene lernt, mit seinen neuen Lebensumständen, mit denen er zunächst überfordert ist, umgehen zu lernen. Derartige Anpassungsstörungen haben einen funktionalen Sinn, so belastend sie für die Betroffenen auch sind. Sie sind eine vorübergehende, hilfreiche Reaktion auf veränderte Lebenssituationen. Ohne die depressive Krise (auch Burnout genannt) würden Menschen akute Lebenskrisen weniger gut meistern. Kinder beispielsweise zeigen beim Übergang in den Kindergarten oder in die Schule, wo sie mit einer gänzlich neuen Umgebung und mit gänzlich neuen Herausforderung konfrontiert sind, zunächst eine sog. Orientierungsreaktion. Das heißt sie sind ängstlich, beobachtend, in sich gekehrt, oft sind sie auch traurig und wissen nicht, ob und wie sie die neue Situation meistern können. Diese Orientierungsreaktion sieht einer milden Depression sehr ähnlich und fühlt sich offensichtlich auch so an.

Am anderen Ende der Depressionsformen wäre die endogene Depression angesiedelt, bei der kein akuter Auslöser auffindbar sind. Hier ist davon auszugehen, dass die Gründe in der (frühen) Kindheit liegen. Das kann fehlende empathische Resonanz sein, eine unsichere Bindung an primäre Bezugspersonen, ein wechselnd überfürsorglicher und wenig einfühlsamer Kontakt zu den primären Bezugspersonen oder manchmal auch traumatische Ereignisse. Deshalb ist der Begriff der endogenen Depression etwas irreführend, weil er nahelegt, dass diese Depression nichts mit dem gelebten Leben zu tun hat. Nach meiner Erfahrung hat jede Depression ihre Gründe, gleichzeitig gilt, was die Anonymen Alkoholiker als die sieben Gründe für die Alkoholsucht aufzählen: „Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, …“, sprich das normale Leben. Depression kann Folge der Dinge im Leben sein, die man gesehen und erlebt hat, kann aber auch unverhältnismäßig sein zu gleich welchem Anlass. Bei den schweren, endogenen Depressionen ist die zweite Säule der Behandlung, die medikamentöse, oftmals unausweichlich.

Zwar hat sich gezeigt, dass Antidepressiva in vielen empirischen Studien kaum besser als ein Placebo wirken, entsprechend kommt es gerade bei nicht akuten, depressiven Zuständen zu Substanzsteigerungen, was oft zur Chronifizierung der Depression führt statt zum Verschwinden. Bedenkenswert ist außerdem die Tatsache, dass beim Absetzen von Antidepressiva Symptome auftauchen können, die Ähnlichkeiten mit einer Depression haben. Entsprechend interpretieren Patienten die Absetzsymptome, die bis zu zwei Jahren nach Absetzen anhalten können, als Wiederaufflammen der Depression. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass jedwede Psychotherapie keine direkt wirkende Behandlung in akuten Krisen sein kann, weshalb in solchen nur die medikamentöse Behandlung möglich ist. Das gilt ganz besonders bei Suizidgefahr.

Und selbst wenn Depressionen ein Leiden völlig anderer Art als Körperkrankheiten zu sein scheinen, gibt es Menschen, denen die Medikamente gut helfen. Entsprechend ist auch hier die Entscheidung der Betroffenen ausschlaggebend. Grundsätzlich ist, wie angedeutet, bei leichten depressiven Episoden eine Pharmakotherapie nicht Mittel der ersten Wahl, es sei denn es besteht ein entsprechender Wunsch der Patienten. Je schwerer allerdings die Depressionen im akuten Stadium sind, umso wichtiger ist eine fachärztliche (!), antidepressive Medikation.

 

Nehmen Depressionen zu?

Eingeleitet habe ich den Artikel mit der Bemerkung, dass die Depression einigen bereits als Signatur unserer modernen Zeit gilt. Stimmt das? Gesichert ist die eklatante Zunahme von Störungen aus dem Formenkreis der Depression. In sog. Industrieländern weisen sie eine Prävalenz von bis zu 20 Prozent auf – bis vor kurzem ging man noch von ca. 7 Prozent aus. Zwar behaupten einige Forscher, dass nicht die Depressionen, sondern die Aufmerksamkeit und die Diagnostik zugenommen haben, sodass im Gegensatz zu früher Depressionen besser erkannt werden und damit in die Statistik einfließen, dennoch sieht nicht nur die WHO eine echte Steigerung und geht sogar von einer weiteren Zunahme im Verlauf des 21. Jahrhunderts aus.

Für den französischen Soziologen Alain Ehrenberg eignet sich die Depression „außerordentlich gut für das Verständnis der zeitgenössischen Individualität.“ Laut Ehrenberg beginnt die Karriere der Depression „in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden dazu verpflichtet, er selbst zu sein.“ Die eigentlich begrüßenswerte Freiheit, die wir heute in unserer Lebensführung haben, während früher Herkunft und Geschlecht unser Leben festlegten, ist demnach inzwischen zu einem neuen Problem geworden. Das Individuum leidet unter der Freiheit, vor allem darunter, den unendlichen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung nicht genügen zu können. Während in traditionellen Gesellschaften mit starken Reglementierungen der Mensch laut Sigmund Freud vor allem deshalb neurotisch wurde, weil er das Ausmaß des Verzichts, das die Gesellschaft fordert, nicht ertragen konnte, so wird er inzwischen, so Ehrenberg, depressiv, weil er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich ist.

Schon Kinder müssen, um aus sich was zu machen, allerhand Kurse besuchen, nur so können sie später, wenn sie nur wollen und andere Schranken als das eigene Wollen gibt es vorgeblich ja nicht, alles werden. Ständige Selbstoptimierung, der permanente Vergleich mit anderen „Ichen“ und Lebensentwürfen tragen dazu bei, dass das Individuum kaum mal mit sich zufrieden ist oder sich irgendwo angekommen wähnt. Wer alles aus sich machen kann, keiner Vorherbestimmung gleich welcher Art zu gehorchen hat, muss aus unendlichen Möglichkeiten wählen. Einmal die Wahl haben oder deren Illusion, kann man diese nicht wieder gegen ein unwiderrufliches Gewählthaben eintauschen, nicht eines ganz und gar wählen und alles andere ausschließen.

Die Suche nach dem wahren Selbst endet deshalb nicht selten in der Depression. Wenn Initiative statt Unterordnung gefordert ist, dann leidet das Individuum unter sich selbst, unter der nicht ausreichenden Anstrengung und Initiative, die richtige Wahl unter allen Möglichkeiten zu treffen, unter seiner vermeintlichen Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit. Nicht gesellschaftliche Korsette sind das Problem, sondern die Freiheit, weil Freiheit heißt, ohne Orientierung und Disziplinierung zu sein, ohne Gesetz, Bindung und Tradition. Dann gibt es auch keine Regularien mehr für das Individuum. Die Suche endet dann, so die These Ehrenbergs, in der Depression. Depression und Melancholie sind „beide unglücklicher Ausdruck eines extrem zugespitzten Selbstbewusstseins, des Bewusstseins, nur man selbst zu sein.“

Der Depressive ist dann der, der erschöpft ist von der Anstrengung, aus sich etwas machen zu müssen, und zwar etwas Besonderes (Die Müdigkeit, man selbst zu sein heißt Ehrenbergs Buch im Original). Depression ist hier nicht nur die vielbeschworene „Krankheit der Ideale“, sondern eine „Krankheit der Verantwortlichkeit, in der das Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht.“ Anders gesagt: das Individuum verfügt über nichts mehr als sich selbst, es verfällt, ohne äußere Grenzen, der Sinnlosigkeit. So wird die Depression zur Lektion für den Menschen, der glaubt, alles sei möglich und das Individuum allmächtig. Die Depression kehrt diese illusionäre Allmacht um und sagt „Nichts ist möglich“. „Im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert die Depression das Unbeherrschbare. Der Mensch wird depressiv, weil er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich ist.“

In diesem Sinne wäre die depressive Erschöpfung sehr wohl ein Signum des von uns allen verinnerlichten „Yes We Can-Wahns“. Vor lauter Entfaltungsmöglichkeiten fühlt sich der Einzelne zunehmend unzulänglich und liegt mit sich selbst im Krieg. Wie oben beschrieben, entstehen Depressionen auch auf dem Boden eines verunsicherten Selbstwertgefühls, zum Beispiel durch hohe Erwartungen an die Wirklichkeitstauglichkeit eines Kindes. In nordwestlichen Gesellschaften gilt aber genau die als besonders erstrebenswert, man muss schließlich was aus sich machen und ist von Hause aus nichts. Statt Selbstachtsamkeit wird vor allem Leistung, soziale Anpassung und Tüchtigkeit als Erziehungsziele vorgelebt.

Das Leben als Wettrennen ist eine gesellschaftliche Grundstimmung, die zudem transgenerational weitergegeben wird. In der Folge identifizieren sich Heranwachsende übermäßig mit vermuteten oder tatsächlichen Leistungsanforderungen, es entsteht die für Depressionen typische, überstarke Abhängigkeit von äußeren oder inneren Objekten bzw. Idealbildungen.

 

Bild: Caspar David Friedrich, „Der Mönch am Meer“, Public domain, via Wikimedia Commons – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Caspar_David_Friedrich_-_Der_Moench_am_Meer_-_Google_Art_Project.jpg