Template: single.php
Gesellschaft

Tourist wider Willen

04. August 2025

Dass der Mensch seit gut 100 Jahren sehr gerne reist ist unstrittig, und wir bezahlen diese manchmal manische Reisewut mit übervollen Flughäfen, ewigen Staus auf allen Straßen und inzwischen sogar zerstörten Reisezielen („Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet“, hat Hans Martin Enzensberger schon vor 70 Jahren geschlussfolgert). Warum habe ich trotz der unübersehbaren Reiselust die offenbar falsche Überschrift – „Tourist wider Willen“ – gewählt?

Zunächst einmal ist es der Originaltitel (Accidental Tourist) eines Romans von Anne Tyler (in Deutsch unter dem Titel „Die Reisen des Mr. Leary“, es gibt auch eine sehenswerte Verfilmung), der mich begeistert hat. Der Roman handelt von einem etwas kauzigen Mr. Leary, der Reiseführer für Leute schreibt, die vor allem geschäftlich unterwegs sein müssen, aber das Reisen hassen, wie Macon Leary selbst. Deshalb beschreibt Leary in seinen Reiseführern, wie man weit weg von zuhause sein kann und das trotzdem nicht bemerkt. Dazu gibt er Tipps, wo man genau das essen kann, was man gewohnt ist, wo man am besten übernachtet, ohne dass man überhaupt bemerkt, woanders zu sein und so fort. Auch wie man sich akribisch auf eine Reise vorbereitet, um sich möglichst wenig mit der Außenwelt zu befassen, ist Teil der Serie von Reiseführern, mit denen die Hauptfigur des Romans ihr Geld verdient. Es dürfte sich von selbst verstehen, dass Mr. Leary auch ansonsten ein höchst organisiertes Leben voller Routinen führt, als halte er sich das Leben vom Leib, lebe nicht, sondern würde versuchen, durchtauchend glimpflich davonzukommen.

Mir gefiel nicht nur die Figur des Mr. Leary, sondern ich fand auch die Idee mit den Reiseführern für Menschen, die widerwillig reisen, äußerst gelungen. Warum ist da noch niemand draufgekommen, und warum gibt es diese Art von Reiseführern nur in einem Roman? Schließlich kenne auch ich Menschen, die ungern verreisen und kann mich an Zeiten erinnern, wo auch ich im Urlaub dachte, warum bin ich nicht zuhause geblieben, da kann ich mit mir und meiner Zeit mehr anfangen. Auch an Pauschalreisen und an Kreuzfahrten lässt sich erkennen, dass Touristen bei aller Reiselust dennoch mit einem leisen Widerwillen reisen.

Besonders Deutsche und Engländer reisen gerne pauschal in die Fremde, wollen dort aber nur das einheimische Essen und erwarten, dass man im Ausland mit ihnen in ihrer Muttersprache spricht. Der Ballermann auf Mallorca kann mit Fug und Recht als eine deutsche und englische Enklave angesehen werden, nur dass dort die Sonne verlässlich scheint. Ähnlich vermitteln auch die immer beliebter werdenden Schiffsreisen das Gefühl, gar nicht fort zu sein, sondern von einem sicheren Platz des Eigenen aus ein paar Ansichten auf eine fremde Welt zu erhaschen, ohne dort sein zu müssen, ohne dort leben zu müssen. Die Welt als Foto, das an einem vorbeizieht, aber man bleibt ein außenstehender Betrachter eines Bildes, zu dem man selbst nicht gehört. Scheinbar gibt es immer weniger Menschen, die das frustrierend finden.

Man kann deshalb zu der Ansicht kommen, dass die meisten Reisenden das Fremde, Neue, Unerwartete, eine ganz andere Welt zwar suchen, sie aber gleichzeitig vermeiden wollen, den „echten“ Kontakt dann doch scheuen. Treffend sagte das der polnische Autor Witold Gombrowicz: „Ich begebe mich gerne in den jungfräulichen Urwald oder in die wilde Wüste, aber ich mag nicht, wenn es dort bebt, staubt, zu heiß, zu kalt oder zu nass ist und man außerdem noch Schwierigkeiten mit dem Zähneputzen hat.“ Man will das ganz andere Leben, das Neue, das einen unendlich vermehrt, aber zu nah möchte man es auch nicht haben.

Der Mensch sucht das Unmittelbare, das direkte Leben, ist aber andererseits und nicht nur im Urlaub das zögernde Lebewesen, welches Distanz zur Welt und zum Leben hält. Nur in der Katastrophe, in „Seenot“ ist der Mensch ohne Distanz. Woran sich erkennen lässt, warum Distanz überlebenswichtig für den Menschen ist, auch wenn Distanz heißt, nicht mittendrin zu sein, als wäre man im eigenen Leben gar nicht richtig dabei. Das volle, pralle Leben ohne Distanz, ohne Handbremse ist gefährlich, das Leben mit Schutzvorrichtungen ist unbefriedigend wie Sekt ohne Alkohol. Im Leben ist es wie auf Safari mit den ‚wirklich wilden Tieren’: entweder ist man zu weit von ihnen entfernt, hat sie kaum gesehen, geschweige denn erlebt, oder aber man ist zu nah dran, womit die Tiere schnell ‚zu wirklich’ werden und man selbst zu ihrer Kalorie …

Das Verpassen des Lebens, könnte man schlussfolgern, das geminderte, nicht ganz und gare Leben, ist deshalb nicht Schicksal einiger benachteiligter Menschen, sondern unabdingbare Lebenserfahrung aller, eine Bedingung menschlichen Lebens: Vor lauter Suche nach Schutz vor dem Leben verpasst man dasselbe. Der Grundton ist deshalb das „halbe Leben“, das sich hin und wieder nach der Unmittelbarkeit und Intensität des Lebens und Erlebens sehnt, nach dem authentischen Ganz und Gar – also nach Urlaub und Reisen. Vielleicht kann man diese Sehnsucht nach einem intensiveren, unmittelbareren Leben als die Hauptmotivation des Urlaubens und Reisens ausmachen.

Wer sich im Alltag vor der manchmal unfreundlichen und bedrängenden Wirklichkeit zu schützen versucht, wer sich das Leben mit Komfort so einzurichten versucht, dass es einem gestohlen bleiben kann, der wird dennoch hin und wieder von der Sehnsucht nach dem wilden Leben heimgesucht. Das hat der belgische Schriftsteller Philippe Toussaint wie immer auf wunderbar ironische Art und Weise zum Ausdruck gebracht: „Jedes Mal wenn ich reise, befällt mich im Moment der Abreise eine ganz leichte Angst, eine Angst, die manchmal getönt ist von einem sanften Schauder der Erregung. Weiß ich doch, dass mit dem Reisen stets die Möglichkeit zu sterben einhergeht – oder Sex zu haben (natürlich höchst unwahrscheinliche Eventualitäten, die dennoch nie ganz auszuschließen sind).“

Und trotzdem – der Mensch ist kein Wesen des Vertrauens –, werden wir die besagten Schutzvorrichtungen auch im Urlaub nicht los. Was sich im Roman von Anne Tylor überaus humorvoll liest, wenn Macon Leary beispielsweise eine Reise vorbereitet, wenn er akribisch packt und organisiert, um nur ja nicht von irgendwas überrascht zu werden. Auch im Urlaub wird der Mensch die Polarität von Schutzsuche und dem Wunsch nach Unmittelbarkeit nicht los. Und entsprechend sieht nicht nur der Pauschaltourist manchmal wenig vorteilhaft und ein bisschen lächerlich aus. Schon beim Kulturphilosophen Egon Friedell kann man lesen: „Das beklagenswerteste Geschöpf dieser Zeit ist der Reisende. Er sieht sich die Welt an: aber dies hat zur Folge, dass er sich die einzige Welt, die wirklich ist, nämlich seine eigene, niemals ansieht!

Überall herrscht die gleiche Reisewut; und der Koreaner träumt von einer Reise nach Hamburg, weil er hofft, dort das zu erfahren, weswegen der Hamburger nach Korea möchte. Und warum fahren die Menschen irgendwohin, wo sie nichts zu suchen haben und wo sie niemand brauchen kann? Weil sie sich selbst nicht ertragen! Aber gerade dieses gefürchtete ‚eigene Ich‘, vor dem sie in fremde Länder davonlaufen, fährt als blinder Passagier überallhin mit. Und wenn diese Ablenkung den Menschen nicht nützt, so spielen sie Hasard oder bringen harmlose Tiere um. Und wenn auch das nicht hilft, so machen sie einen Weltkrieg.“

Der Mensch reist wohl auch deshalb so gerne, weil er vor seiner (vergleichsweise sicheren) Sesshaftigkeit ein Nomade war. Egon Friedell spitzt diesen Befund noch zu, indem er den Menschen als eine Art Fluchttier begreift. Immer auf der Flucht, auf der Suche nach einem Ort, der ihm gefallen könnte und auf der Flucht vor dem Ort, der ihm nicht gefällt. Immer auf der Suche nach Auswegen aus seinem Leben, aus der partiellen Lebensunlust. Franz Schubert vertonte die Zeile „Wo du nicht bist, dort ist das Glück“, Burt Bacharach sang „I don’t know what to do with myself“, Tezer Özlü will „Aus mir fliehen, mit der es schwer ist zu leben.“

Friedrich Nietzsche skizziert den Menschen als denjenigen, der von sich selbst Unmögliches verlangt und der seinen Überdruss am Leben durch Weltflucht erträglich machen will, der ausschließlich in der Bewegung zu kommenden Zuständen hin existiert, die besser sein sollen als die jetzigen. Im Urlaub lassen sich Menschen und Menschengruppen beobachten, die versuchen, den langen Tag ohne Verpflichtungen zu managen, zu überbrücken, die viele Zeit totzuschlagen. Es scheint gerade im Urlaub offensichtlich: der Mensch weiß mit seinem Leben nichts rechtes anzufangen. Und aus dieser Unverwendbarkeit flieht er nicht selten in irgendwelche Absurditäten.

Vielleicht sind deshalb die Unorte, die Flughäfen oder andere Zwischenräume die wahren Orte des Reisenden, wo er nicht mehr zuhause ist und noch nicht am Reiseziel: Bertold Brecht dichtete: „Ich sitze am Straßenrand. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?“ Günter Kunert formulierte das Nämliche: Beim Reisen „habe ich mich gefragt, ob nicht die Überfahrt stets das Beste gewesen ist, durch das Gefühl von Freiheit und Ungebundensein, ein Geschenk für eineinhalb Stunden.“

Vielleicht macht dieses „nicht hier – nicht dort“ den Reiz des Reisens aus: im Niemandsland fühlt man sich vom Zwang befreit, sich irgendwo zuhause fühlen zu müssen. Auch die soziale Stellung, die man am Wohnort einnimmt, zählt nicht mehr, die meisten Anstrengungen, sich im Leben installiert zu haben, sich irgendwo heimisch gemacht zu haben, hat man zurückgelassen, es gibt keinen Platz mehr auf der Welt, auf den man sich berufen könnte. Stattdessen lebt man in Rückzugsräumen mitten in der Welt, z.B. in Hotels oder sonstigen, nicht von einem selbst eingerichteten Räumen, von denen man anders auf die Welt und sich selbst blicken kann. Als Außenseiter, der nicht dazugehören will, als Weltfremder ist man nicht verantwortlich für den Zustand der Welt und nimmt ihn nicht persönlich.

Endlich ist man wieder über das meiste im Unklaren, besonders über die Frage, warum man es auf die Welt geschafft hat, was das alles zu bedeuten hat und ob überhaupt. Das Außerhalb der Gesellschaft als Punkt, von dem aus kontemplativ und staunend, als würde man das meiste zum ersten Mal wahrnehmen, auf die Welt geguckt werden kann, frei von allen Zwängen des Mitmachens. Bei Anne Tyler liest sich das so: „Das wirkliche Abenteuer ist das Dahinströmen der Zeit.“ So kann man einen Moment intensiver Gegenwart erleben, einer Präsenz, als wäre es verwunderlich, dass man bei allem, was man erlebt, auch tatsächlich dabei ist – bzw., als wäre man das nur selten. Dieses Urlaubsgefühl gibt es sogar, ohne dass man sich auf einer Reise befindet: „Heute nichts erlebt. Auch schön“, heißt das in einer Werbung für die Ostfriesische Insel Spiekeroog.

Dr. Georg Salzberger

Gesellschaft

Tourist wider Willen #3

13. Juli 2025

Dass der Mensch seit gut 100 Jahren sehr gerne reist ist unstrittig, und wir bezahlen diese manchmal manische Reisewut mit übervollen Flughäfen, ewigen Staus auf allen Straßen und inzwischen sogar zerstörten Reisezielen („Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet“, hat Hans Martin Enzensberger schon vor 70 Jahren geschlussfolgert). Warum habe ich trotz der unübersehbaren Reiselust die offenbar falsche Überschrift – „Tourist wider Willen“ – gewählt?

Zunächst einmal ist es der Originaltitel (Accidental Tourist) eines Romans von Anne Tyler (in Deutsch unter dem Titel „Die Reisen des Mr. Leary“, es gibt auch eine sehenswerte Verfilmung), der mich begeistert hat. Der Roman handelt von einem etwas kauzigen Mr. Leary, der Reiseführer für Leute schreibt, die vor allem geschäftlich unterwegs sein müssen, aber das Reisen hassen, wie Macon Leary selbst. Deshalb beschreibt Leary in seinen Reiseführern, wie man weit weg von zuhause sein kann und das trotzdem nicht bemerkt. Dazu gibt er Tipps, wo man genau das essen kann, was man gewohnt ist, wo man am besten übernachtet, ohne dass man überhaupt bemerkt, woanders zu sein und so fort. Auch wie man sich akribisch auf eine Reise vorbereitet, um sich möglichst wenig mit der Außenwelt zu befassen, ist Teil der Serie von Reiseführern, mit denen die Hauptfigur des Romans ihr Geld verdient. Es dürfte sich von selbst verstehen, dass Mr. Leary auch ansonsten ein höchst organisiertes Leben voller Routinen führt, als halte er sich das Leben vom Leib, lebe nicht, sondern würde versuchen, durchtauchend glimpflich davonzukommen.

Mir gefiel nicht nur die Figur des Mr. Leary, sondern ich fand auch die Idee mit den Reiseführern für Menschen, die widerwillig reisen, äußerst gelungen. Warum ist da noch niemand draufgekommen, und warum gibt es diese Art von Reiseführern nur in einem Roman? Schließlich kenne auch ich Menschen, die ungern verreisen und kann mich an Zeiten erinnern, wo auch ich im Urlaub dachte, warum bin ich nicht zuhause geblieben, da kann ich mit mir und meiner Zeit mehr anfangen. Auch an Pauschalreisen und an Kreuzfahrten lässt sich erkennen, dass Touristen bei aller Reiselust dennoch mit einem leisen Widerwillen reisen.

Besonders Deutsche und Engländer reisen gerne pauschal in die Fremde, wollen dort aber nur das einheimische Essen und erwarten, dass man im Ausland mit ihnen in ihrer Muttersprache spricht. Der Ballermann auf Mallorca kann mit Fug und Recht als eine deutsche und englische Enklave angesehen werden, nur dass dort die Sonne verlässlich scheint. Ähnlich vermitteln auch die immer beliebter werdenden Schiffsreisen das Gefühl, gar nicht fort zu sein, sondern von einem sicheren Platz des Eigenen aus ein paar Ansichten auf eine fremde Welt zu erhaschen, ohne dort sein zu müssen, ohne dort leben zu müssen. Die Welt als Foto, das an einem vorbeizieht, aber man bleibt ein außenstehender Betrachter eines Bildes, zu dem man selbst nicht gehört. Scheinbar gibt es immer weniger Menschen, die das frustrierend finden.

Man kann deshalb zu der Ansicht kommen, dass die meisten Reisenden das Fremde, Neue, Unerwartete, eine ganz andere Welt zwar suchen, sie aber gleichzeitig vermeiden wollen, den „echten“ Kontakt dann doch scheuen. Treffend sagte das der polnische Autor Witold Gombrowicz: „Ich begebe mich gerne in den jungfräulichen Urwald oder in die wilde Wüste, aber ich mag nicht, wenn es dort bebt, staubt, zu heiß, zu kalt oder zu nass ist und man außerdem noch Schwierigkeiten mit dem Zähneputzen hat.“ Man will das ganz andere Leben, das Neue, das einen unendlich vermehrt, aber zu nah möchte man es auch nicht haben.

Der Mensch sucht das Unmittelbare, das direkte Leben, ist aber andererseits und nicht nur im Urlaub das zögernde Lebewesen, welches Distanz zur Welt und zum Leben hält. Nur in der Katastrophe, in „Seenot“ ist der Mensch ohne Distanz. Woran sich erkennen lässt, warum Distanz überlebenswichtig für den Menschen ist, auch wenn Distanz heißt, nicht mittendrin zu sein, als wäre man im eigenen Leben gar nicht richtig dabei. Das volle, pralle Leben ohne Distanz, ohne Handbremse ist gefährlich, das Leben mit Schutzvorrichtungen ist unbefriedigend wie Sekt ohne Alkohol. Im Leben ist es wie auf Safari mit den ‚wirklich wilden Tieren’: entweder ist man zu weit von ihnen entfernt, hat sie kaum gesehen, geschweige denn erlebt, oder aber man ist zu nah dran, womit die Tiere schnell ‚zu wirklich’ werden und man selbst zu ihrer Kalorie …

Das Verpassen des Lebens, könnte man schlussfolgern, das geminderte, nicht ganz und gare Leben, ist deshalb nicht Schicksal einiger benachteiligter Menschen, sondern unabdingbare Lebenserfahrung aller, eine Bedingung menschlichen Lebens: Vor lauter Suche nach Schutz vor dem Leben verpasst man dasselbe. Der Grundton ist deshalb das „halbe Leben“, das sich hin und wieder nach der Unmittelbarkeit und Intensität des Lebens und Erlebens sehnt, nach dem authentischen Ganz und Gar – also nach Urlaub und Reisen. Vielleicht kann man diese Sehnsucht nach einem intensiveren, unmittelbareren Leben als die Hauptmotivation des Urlaubens und Reisens ausmachen.

Wer sich im Alltag vor der manchmal unfreundlichen und bedrängenden Wirklichkeit zu schützen versucht, wer sich das Leben mit Komfort so einzurichten versucht, dass es einem gestohlen bleiben kann, der wird dennoch hin und wieder von der Sehnsucht nach dem wilden Leben heimgesucht. Das hat der belgische Schriftsteller Philippe Toussaint wie immer auf wunderbar ironische Art und Weise zum Ausdruck gebracht: „Jedes Mal wenn ich reise, befällt mich im Moment der Abreise eine ganz leichte Angst, eine Angst, die manchmal getönt ist von einem sanften Schauder der Erregung. Weiß ich doch, dass mit dem Reisen stets die Möglichkeit zu sterben einhergeht – oder Sex zu haben (natürlich höchst unwahrscheinliche Eventualitäten, die dennoch nie ganz auszuschließen sind).“

Und trotzdem – der Mensch ist kein Wesen des Vertrauens –, werden wir die besagten Schutzvorrichtungen auch im Urlaub nicht los. Was sich im Roman von Anne Tylor überaus humorvoll liest, wenn Macon Leary beispielsweise eine Reise vorbereitet, wenn er akribisch packt und organisiert, um nur ja nicht von irgendwas überrascht zu werden. Auch im Urlaub wird der Mensch die Polarität von Schutzsuche und dem Wunsch nach Unmittelbarkeit nicht los. Und entsprechend sieht nicht nur der Pauschaltourist manchmal wenig vorteilhaft und ein bisschen lächerlich aus. Schon beim Kulturphilosophen Egon Friedell kann man lesen: „Das beklagenswerteste Geschöpf dieser Zeit ist der Reisende. Er sieht sich die Welt an: aber dies hat zur Folge, dass er sich die einzige Welt, die wirklich ist, nämlich seine eigene, niemals ansieht!

Überall herrscht die gleiche Reisewut; und der Koreaner träumt von einer Reise nach Hamburg, weil er hofft, dort das zu erfahren, weswegen der Hamburger nach Korea möchte. Und warum fahren die Menschen irgendwohin, wo sie nichts zu suchen haben und wo sie niemand brauchen kann? Weil sie sich selbst nicht ertragen! Aber gerade dieses gefürchtete ‚eigene Ich‘, vor dem sie in fremde Länder davonlaufen, fährt als blinder Passagier überallhin mit. Und wenn diese Ablenkung den Menschen nicht nützt, so spielen sie Hasard oder bringen harmlose Tiere um. Und wenn auch das nicht hilft, so machen sie einen Weltkrieg.“

Der Mensch reist wohl auch deshalb so gerne, weil er vor seiner (vergleichsweise sicheren) Sesshaftigkeit ein Nomade war. Egon Friedell spitzt diesen Befund noch zu, indem er den Menschen als eine Art Fluchttier begreift. Immer auf der Flucht, auf der Suche nach einem Ort, der ihm gefallen könnte und auf der Flucht vor dem Ort, der ihm nicht gefällt. Immer auf der Suche nach Auswegen aus seinem Leben, aus der partiellen Lebensunlust. Franz Schubert vertonte die Zeile „Wo du nicht bist, dort ist das Glück“, Burt Bacharach sang „I don’t know what to do with myself“, Tezer Özlü will „Aus mir fliehen, mit der es schwer ist zu leben.“

Friedrich Nietzsche skizziert den Menschen als denjenigen, der von sich selbst Unmögliches verlangt und der seinen Überdruss am Leben durch Weltflucht erträglich machen will, der ausschließlich in der Bewegung zu kommenden Zuständen hin existiert, die besser sein sollen als die jetzigen. Im Urlaub lassen sich Menschen und Menschengruppen beobachten, die versuchen, den langen Tag ohne Verpflichtungen zu managen, zu überbrücken, die viele Zeit totzuschlagen. Es scheint gerade im Urlaub offensichtlich: der Mensch weiß mit seinem Leben nichts rechtes anzufangen. Und aus dieser Unverwendbarkeit flieht er nicht selten in irgendwelche Absurditäten.

Vielleicht sind deshalb die Unorte, die Flughäfen oder andere Zwischenräume die wahren Orte des Reisenden, wo er nicht mehr zuhause ist und noch nicht am Reiseziel: Bertold Brecht dichtete: „Ich sitze am Straßenrand. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?“ Günter Kunert formulierte das Nämliche: Beim Reisen „habe ich mich gefragt, ob nicht die Überfahrt stets das Beste gewesen ist, durch das Gefühl von Freiheit und Ungebundensein, ein Geschenk für eineinhalb Stunden.“

Vielleicht macht dieses „nicht hier – nicht dort“ den Reiz des Reisens aus: im Niemandsland fühlt man sich vom Zwang befreit, sich irgendwo zuhause fühlen zu müssen. Auch die soziale Stellung, die man am Wohnort einnimmt, zählt nicht mehr, die meisten Anstrengungen, sich im Leben installiert zu haben, sich irgendwo heimisch gemacht zu haben, hat man zurückgelassen, es gibt keinen Platz mehr auf der Welt, auf den man sich berufen könnte. Stattdessen lebt man in Rückzugsräumen mitten in der Welt, z.B. in Hotels oder sonstigen, nicht von einem selbst eingerichteten Räumen, von denen man anders auf die Welt und sich selbst blicken kann. Als Außenseiter, der nicht dazugehören will, als Weltfremder ist man nicht verantwortlich für den Zustand der Welt und nimmt ihn nicht persönlich.

Endlich ist man wieder über das meiste im Unklaren, besonders über die Frage, warum man es auf die Welt geschafft hat, was das alles zu bedeuten hat und ob überhaupt. Das Außerhalb der Gesellschaft als Punkt, von dem aus kontemplativ und staunend, als würde man das meiste zum ersten Mal wahrnehmen, auf die Welt geguckt werden kann, frei von allen Zwängen des Mitmachens. Bei Anne Tyler liest sich das so: „Das wirkliche Abenteuer ist das Dahinströmen der Zeit.“ So kann man einen Moment intensiver Gegenwart erleben, einer Präsenz, als wäre es verwunderlich, dass man bei allem, was man erlebt, auch tatsächlich dabei ist – bzw., als wäre man das nur selten. Dieses Urlaubsgefühl gibt es sogar, ohne dass man sich auf einer Reise befindet: „Heute nichts erlebt. Auch schön“, heißt das in einer Werbung für die Ostfriesische Insel Spiekeroog.

Dr. Georg Salzberger