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Gesellschaft

Niedergeschlagenheit, depressive Verstimmung und Depression

12. September 2023

Über viele Jahrzehnte war die Depression fast unsichtbar, beziehungsweise wurde sie schamhaft verborgen, seit einigen Jahren hat sich das fast gedreht und sie steht geradezu im Focus der Aufmerksamkeit. Das ist aufgrund ihrer manchmal schon beängstigenden Verbreitung – nicht wenige Experten gehen von einer weiteren Zunahme aus – mehr als berechtigt. Doch je höher die Zahlen der Betroffenen werden, inzwischen je nach Schätzung bis zu 20 Prozent, umso schillernder, uneinheitlicher wird diese Störung, Krankheit, wird dieser Zustand.

Da gibt es die schwer betroffenen Depressiven, die ihre Arbeitsfähigkeit womöglich dauerhaft verlieren, da gibt es aber auch die, die nach einer kurzen oder längeren Krise wieder vollständig genesen, da gab es sogar einen Nationaltorwart, der trotz einer schweren Depression über viele Jahre hinweg seine Leistung gebracht hat und dem niemand seine Depression angemerkt hat. Nicht wenige Künstler verdanken ihrer Depression zwar nicht ihr Talent, aber ihre motivationale Kraft, um Werk auf Werk zu schaffen: „Take your broken heart, make it into art“ (Meryl Streep). Und auch bei Politikern gibt es hin und wieder „Melancholiker“, die man weniger poetisch eben auch als Depressive bezeichnen würde, man denke nur an Willy Brandt. Und offensichtlich ist dieser Zustand nicht nur pathologisch, es gibt Depression als eine fast schon freigewählte, die von den Betroffenen jedenfalls als kulturelle Leistung angesehen wird: „Diese Traurigkeit hat man sich irgendwann ausgesucht, wenn man ihr nicht geradezu nachgelaufen ist, ja ihr zuliebe auf das so naheliegende, so leicht verfügbare Glück verzichtet hat“, so jedenfalls sagt das der Schriftsteller Martin Kohan über den für die argentinische Seele so zentralen Tango. Auch in Medizin und Psychologie spricht man, wenn von Depression die Rede ist, nicht immer von derselben Sache, schon bei den Begriffen herrscht ein Wirrwarr: Da wird von neurotischer und psychotischer Depression gesprochen, von reaktiver und endogener, von Winterdepression, von klimakterischer, involutiven, pharmakogenen, lavierten, agitierten, somatosierten Depression.

Eindeutig ist nur die Zunahme des klinischen Bildes Depression: So wurden beispielweise in Deutschland binnen eines Jahrzehntes mehr als doppelt so viele Antidepressiva verschrieben. Aus einer seltenen Krankheit wurde binnen fünfzig Jahren eine Volkskrankheit. Insgesamt scheint jedwede Art des „Psycho-Dopings“, des Substanzmittelmissbrauchs zuzunehmen, kaum jemand meint auf die Hilfe von psychoaktiven Substanzen verzichten zu können. Auch viele Suchtformen haben einen depressiven Hintergrund, selbst das zurzeit häufig bemühte Burnout ist eine Art der Depression, nur weniger stigmatisiert. Die Vielfalt und das Schillernde der Depression liegen auch daran, dass jeder Mensch Traurigkeit und Deprimiertheit, Resignation kennt. Insofern ist immer bedenkenswert, dass derartige Zustände zunächst einmal normal-menschliche sind, die zu jedem Leben dazu gehören. Wann genau derartige Zustände nicht mehr „normal“, sondern krank sind, lässt sich objektiv nicht zweifelsfrei klären, hier ist – wie so oft im Psychischen – der subjektive Leidensdruck der Betroffenen ausschlaggebend.

 

„Melancholie“

Bevor die Depression als Krankheit thematisiert wird, soll ein Blick in die Kulturgeschichte zeigen, wie sehr depressive Zustände zur menschlichen Erfahrung des Lebens gehören. Schon in der Antike wurde die Depression als Zustand des Menschseins – nicht als Krankheit – beschrieben. Sie wurde als Melancholie bezeichnet, was gleich edler klingt und nicht an Krankheit gemahnt. Die Symptome – Apathie, Lustlosigkeit, innere Leere – wurden auch damals schon beschrieben und scheinen über viele Jahrhunderte mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit gleich zu sein. Damals wurde die noch heute sprichwörtliche, schwarze Galle verantwortlich gemacht. Beziehungsweise das Leben selbst, auf welches melancholisch zu reagieren, als angemessen und richtig galt. Gerade die Antike hatte ein eher nihilistisches Weltbild (ohne deshalb übrigens die schönen Seiten des Lebens zu übersehen): die Natur galt als manisch, da sie mit erschreckender Grausamkeit Leben erschafft und wieder vernichtet. Die Götter der Antike waren alles andere als menschenzugewandte Gestalten, sie waren selbst von Eifersucht, Neid, Macht und Konkurrenz zerfressen und beschäftigten sich deshalb mehr mit sich selbst als mit dem menschlichen Schicksal. Nicht wenige Philosophen der Antike tendierten der Auffassung zu, dass das größte Unglück des Menschen darin besteht, geboren worden zu sein. Jedenfalls, und darin liegt ein Unterschied zum heutigen, medizinischen Herangehen an die Depression, galt die Melancholie nicht primär als bedauernswerte Krankheit, sondern als ein Zustand, der eine angemessene Reaktion auf die Absurdität, Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit des Lebens darstellt. Zuweilen sogar galt die Melancholie als Auszeichnung: insbesondere Philosophen, Künstler und sonstige Geistesgrößen waren melancholisch. Also die Menschen, denen man eine besondere Begabung bei der Betrachtung und Erkenntnis der Welt zubilligte, wurden über diese Erkenntnisse melancholisch.

In der Antike also und noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Melancholie nicht als irrationale Krankheit betrachtet, die man wegmachen muss, sondern als eine Wahrheit, die zum Menschsein gehört. „Von allen schmerzhaften Charakteristika einer Depression ist ihre Wahrheit vielleicht am quälendsten“ (M. Ignatieff). Die Depression führt in diesem Sinne durchaus mitten ins Herz des Menschseins, weil dazu auch gehört, das Leben als sinnlose Mühe, als Qual und Langeweile, als ziellos etc. zu empfinden. Deshalb legt eine Depression eine Wahrheit unseres Daseins bloß. Ein Pessimist, hier der Philosoph Arthur Schopenhauer, behauptete, es gäbe nur zwei Lebensbestandteile: die Bedürftigkeit und die Langeweile. Entweder man muss sich um sein Dasein sorgen und es mühsam im Existenzkampf erhalten. Oder aber man verfällt – hat man genug zu essen und zu viel Zeit – der Langeweile, in der man nicht mehr weiß, warum man denn sein Leben erhalten soll.

Wie gesagt, solche deprimierenden, nihilistischen Welt- und Lebenssichten sind nicht die einzige Wahrheit, aber sie sind eine Wahrheit, der Menschen immer einmal wieder zuneigen. Es scheint sowohl eine lebensbejahende Haltung zu geben, eine Freude am Dasein, aber eben auch Verneinung und Ablehnung des Lebens. Beide Haltungen gehören zum Menschsein dazu. Womöglich führen ja alle metaphysischen Fragen nach einem Sinn des Lebens und der Welt ins Nichts, in eine Leere. Und die heutige Gesellschaft scheint es verlernt zu haben, die Erkenntnis der ‚Leere’ in den Dienst des Lebens zu stellen. Jedenfalls zeigt die Kulturgeschichte, dass die Depression nicht vorschnell als pathologisch abzustempeln ist, sie kann auch eine Lebensäußerung sein.

 

Wie sieht eine Depression aus?

Auch auf die Frage nach dem klinischen (oder einfach typischen) Aussehen der Depression gibt es keine einfache und verbindliche Antwort. Die depressive Verstimmung ist vermutlich so individuell wie die Menschen, die von ihr betroffen sind, weshalb die Symptome auch von Betroffenem zu Betroffenem variieren können. Typisch ist immer eine Mischung aus körperlichen und psychischen Symptomen.

Die Stimmung ist meist leer, ausgebrannt, gleichgültig, hoffnungslos. Dabei steht nicht die Traurigkeit im Vordergrund, sondern das Gefühl, fühllos zu sein. Die Depression ist umso tiefer, je weniger Traurigkeit empfunden wird, je apathischer der Betroffene wirkt (emotionale Leere). Diffuse Angstgefühle sind bei schweren Depressionen fast immer anzutreffen und unter ihnen leiden die Betroffenen besonders. Der Antrieb ist gehemmt: Die Betroffenen fühlen sich gelähmt, entscheidungsunfähig, erstarrt. Damit geht ein Denken einher, dass auf der Stelle tritt: Grübeln. Das Denken und Fühlen ist von Schuldgefühlen, von Angst vor Erkrankung, vor Verarmung, vor Versagen und von Minderwertigkeitsgefühlen geprägt. „Ich bin der schlechteste Mensch der Welt“, „Ich bin der ärmste Mensch“, „Ich bringe nur Unglück über meine Nächsten“ können typische Aussagen sein. Fast immer geht die depressive Verstimmung mit Selbstzweifeln einher, mit Gefühlen absoluter Wertlosigkeit, Überflüssigkeit und mit Versagensängsten. Die Herabsetzung der Selbstachtung ist dabei ein zentrales Motiv der Depression, welches auch als Circuli vitiosus wirkt, weil es den Antrieb und die Leistungsfähigkeit senkt und damit erneut die Selbstachtung herabsetzt. Suizidgedanken infolge der Wertlosigkeits- und Schamgefühle sind das größte Problem im Rahmen schwerer Depressionen. Schließlich sind auch die Vitalgefühle und vegetativen Funktionen gestört: die Betroffenen fühlen sich niedergeschlagen, schlaff, unter Druck stehend, sind ständig müde, dabei oft schlaflos, appetitlos, unruhig. Auch körperliche Symptome sind möglich, so kann die Periode ausbleiben, Verstopfung ist häufig, Kreislauf-Messwerte können verändert sein, die Libido vermindert.

Bei schweren Formen der Depression kommt es manchmal zu manischen Phasen. Manie meint eine Episode mit extrem gesteigerter, unecht wirkender, guter Laune und extrem gesteigertem Antrieb: Euphorie und Abgehobensein. In manischen Phasen neigt der Betroffene zu Überaktivität, schläft kaum und ist auffallend euphorisch. Eine Erhöhung des Selbstwertgefühls mit entsprechender Überschätzung der eigenen Fähigkeiten ist ebenfalls typisch für die Manie. Gesteigerte Motorik, Rededrang mit Ideenflucht, der Überschuss an Antrieb führen zum Teil zu überschießenden Handlungen, vor denen die Erkrankten zu bewahren sind. Üblicherweise sind die manischen Phasen kürzer und dauern selten länger als wenige Monate und wechseln sich mit depressiven Phasen ab.

 

Ursachen der Depression

Die Frage nach der oder den Ursachen der Depression wird kontrovers diskutiert. Insbesondere Teile der Medizin bzw. Psychiatrie betrachten die Depression als bedauerliche Entgleisung in den Wahnsinn, als eine sozusagen ausschließlich biochemisch bedingte Körperkrankheit, die keinen verstehbaren Hintergrund hat. Die Psychologie hingegen hält zwar die depressiven Sichtweisen für „übertrieben“, billigt ihnen aber eine Teilwahrheit zu, die man verstehen muss, um dem Depressiven helfen zu können. Die Frage, ob die Depression eine Wahrheit über das individuelle Leben enthält und entsprechend etwas mit dem eigenen Leben zu tun hat oder ob sie – wie z.B. eine Viruserkrankung – eine von außen hereinbrechende Krankheit ist, ist nach wie vor nicht beantwortet.

Entsprechend ist natürlich auch strittig, ob die Depression in den Bereich der Psychiatrie fällt, also körperlich (z.B. genetisch) verursacht sind, oder ob die Depression dem Bereich der Psychologie zuzuschlagen ist, womit man sie als eine besondere Form der Neurose anzusehen hätte, die im Wesentlichen lebensgeschichtlich bedingt ist. Klar ist, dass es dabei auch um Krankenscheine, sprich um Geld geht. Und diese Frage hat selbstverständlich Einfluss darauf, wie Depressionen behandelt werden sollen: Psychotherapie und/oder antidepressive Medikamente?

Dominant dürfte immer noch die Annahme einer somatischen Verursachung der Depression sein, allerdings ist die Psychiatrie bis heute den Beweis schuldig geblieben und inzwischen sprechen eine Reihe von Gründen dagegen. Einmal ist die weite Verbreitung untypisch für eine Körperkrankheit, die üblicherweise nicht mehr als knapp ein Prozent der Bevölkerung betrifft. Auch haben sich diverse Annahmen über die biologischen Ursachen nicht halten lassen, zuletzt ereilte dieses Schicksal auch die Serotonin-Hypothese. Die These, demnach Depressionen durch ein Ungleichgewicht des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn ausgelöst werden, ist mehrfach widerlegt, geistert aber weiter durch die Welt. Man kann Serotonin nicht direkt messen, doch bei allen Untersuchungen, die Umwege gewählt haben (Analyse von Plasma, Liquor, Blut), zeigten sich keine unterschiedlichen Serotoninkonzentrationen zwischen Menschen mit oder ohne Depression. Serotoninmangel als Erklärung für Depression ist ungefähr so stimmig wie Schüchternheit auf einen Alkoholmangel zurückzuführen.

Allerdings bietet das Bild der Depression als Stoffwechselstörung eine Erklärung, mit der viele gut leben können. Wer daran glaubt, muss nicht annehmen, dass das aktuelle Befinden etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben könnte, er wird von der Verantwortung für die Erkrankung entlastet: Depression wäre nur noch eine Illusion, die durch Tabletten verschwindet. So braucht man keine Antworten auf Fragen zu finden, die das Leben einem stellt.

Wie gesagt, die Frage nach den Ursachen ist nach wie vor ungeklärt, deshalb sprechen viele Experten davon, dass depressive Episoden Endstrecke verschiedenster genetischer, biographischer, lerngeschichtlicher, konflikthafter und gelegentlich auch körperlicher Prozesse sind. Womöglich, da ist die Wissenschaft aber erst ganz am Anfang, verbergen sich hinter dem zunehmend diffuseren Bild der Depression sehr unterschiedliche Phänomene. Angefangen mit milden Formen, die keinerlei Behandlung erfordern wie die sogenannte Winterdepression, von der Evolutionsbiologen behaupten, sie wäre ein Überbleibsel davon, dass auch wir Menschen einst einen Winterschlaf kannten. Hier wäre die Depression sozusagen ein standby-modus für die kalte Jahreszeit. Auch gibt es bereits bei Kindern depressiv anmutende Phasen, insbesondere beim Übergang in die Schule oder sogar schon in den Kindergarten. Diese quasi gesunden Depressionen können als eine Art von Orientierungsreaktion aufgefasst werden: Wenn ein Kind für eine gänzlich neue Situation noch keine adäquaten Reaktions- und Verhaltensweisen hat, dann zieht es sich zunächst zurück, beobachtet und ist in sich gekehrt. Weiter ginge es mit leichteren Formen wie der reaktiven Depression nach Verlusten, Krankheit oder Trennung vom Partner. Solche kritischen Lebensereignisse können an Grenzen führen, wo Betroffene nicht mehr wissen, wie die Situation zu bewältigen ist. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das sich ausgegrenzt, todmüde, inkompetent fühlen signalisiert „Stopp“. So wäre die Depression eine zweckvolle Vorkehrung des Organismus, um Schlimmeres zu verhüten, diktiert Ruhe und Rückzug. Nehmen Betroffene das Überfordertsein ernst, kann das depressive Erleben eine völlig normale Erfahrung sein und einen ungefährlichen Verlauf nehmen. Nicht alle Probleme muss man als Krankheiten hochstilisieren, das erschwert nur den Umgang mit belastenden Dingen.

Am anderen Ende der Skala sind die schweren Depressionen, sogenannte endogene, angesiedelt, die nicht auf ein aktuelles Lebensereignis zurückzuführen sind und die oft mit wahnhaften Symptomen und akuter Selbstgefährdung durch Suizidgedanken einhergehen, hier sind unbedingt auch biologische, genetische Faktoren anzunehmen.

 

Lebensgeschichtlicher Hintergrund der Depression

Unabhängig vom Streit über die Ursachen der Depression ist der lebensgeschichtliche (neurotische, reaktive) Hintergrund in etwa ähnlich. Die Selbstzweifel, die starken Minderwertigkeitsgefühle, die zentral für Depressionen sind (der Depressive leidet nicht an der „schlechten“ Welt, sondern er stellt sich selbst, seine Tauglichkeit in Frage) deuten darauf hin, dass der depressive Mensch mit sich, mit der Person, die er nun mal ist und mit dem Leben, dass er nun mal lebt, hadert, dass der Depressive sozusagen unversöhnt mit sich selbst ist. Der Depressive hält es nicht aus, er selbst zu sein! Wir alle wünschen uns hin und wieder, jemand anderes zu sein, womöglich ein zweites, ganz anderes Leben zu führen oder auch „einfach nur“ schöner, schneller, schlauer, zufriedener (…) zu sein. Für den Depressiven aber ist dies nicht nur ein vorübergehender Wunsch, sondern er hadert derart mit sich selbst, dass er meint, er müsse unbedingt ein Anderer sein.

Das Unversöhntsein mit sich kann man, etwas literarisch gesprochen, auch als Weigerung, erwachsen zu werden, verstehen. Ich glaube, es war Jean-Paul Sartre, der einmal gesagt hat, ab dem 40. Lebensjahr sei man sogar für sein Gesicht verantwortlich. Damit ist gemeint, dass der Erwachsene die Verantwortung auch für das zu übernehmen hat, was er nicht selbst gemacht hat, was er vorgefunden hat. Dazu gehört vor allem die Person, die man nun einmal ist und die man ja gerade nicht selbst gemacht hat. Ob man Frau oder Mann ist, schön oder weniger schön, klug, sportlich usw., gehört gerade zu den Eigenschaften, auf die man keinen Einfluss hat. Und trotzdem muss man sich mit sich arrangieren, auch wenn man nicht so ist, wie man sich selbst gewünscht hätte. Es wird zwar überall propagiert, man könne alles erreichen und alles sein, wenn man es nur wolle und an sich arbeite, aber das ist natürlich ideologischer Blödsinn: Der Mensch ist mehr das Vorgefundene als das Selbstgemachte, das fängt mit dem Geschlecht an und hört mit der Herkunftsfamilie, die man sich nicht ausgesucht hat, noch längst nicht auf.

Üblicherweise besteht der typische Weg, das Leiden am Erwachsensein abzuwehren, darin, depressiv zu werden (eine andere, häufige Reaktion auf das Leiden am Erwachsensein ist die Sucht, die oft ähnliche Gründe wie die Depression hat). Welche traurigen Aspekte gehören überhaupt zum Erwachsenwerden und -sein? Unstrittig ist, dass das erwachsene Leben fast immer weit hinter unseren jugendlichen Träumen von Karriere und von Weltverbesserung zurückbleibt. Besonders schmerzlich ist, dass in einer Welt, die uns die permanente Verfügbarkeit von allen Optionen vorgaukelt, mit jeder Entscheidung für eine bestimmte Option naturgemäß eine Einengung einhergeht. Bestimmte Fähigkeiten, die auch vorhanden sind, bestimmte Ideen, die man auch hatte, können nicht mehr weiterentwickelt werden. Aus den unendlichen Möglichkeiten werden wenige, bestimmte ausgewählt, auf alle anderen muss verzichtet werden. Der Verzicht wird oft zu wenig oder gar nicht betrauert. Auch der Beruf ist selten die Erfüllung unserer Träume von Selbstverwirklichung und Weltverbesserung, sondern ist eine Nische, die wir auf dem verfügbaren Arbeitsmarkt gefunden haben. Der Wunsch nach freier Entfaltung endet an den Vorgaben des Geldverdienens und der Leistungskonkurrenz. Wohin mit den vielen Resten unserer Antriebe, die nicht im Beruf unterzubringen sind?

Nicht selten werden diese Energien auf den Privatbereich verschoben. Dann ist es die Intimbeziehung, die für alles Unmögliche und Versagte zu entschädigen hat. Damit aber wird die Partnerschaft hoffnungslos überfordert, denn ein anderer Mensch kann nicht für alles und jedes taugen: für das Bedürfnis nach Schutz in einer fremden und zuweilen feindlichen Welt (Geborgenheit), für Bedürfnisse nach Selbstentfaltung und Selbststeigerung im Verliebtsein (Abenteuer). Es ist vermutlich die schwierigste, manche behaupten sogar es sei die unmögliche Lebensaufgabe des Erwachsenenalters, mit einem Menschen dauerhaft als Partner zusammenzuleben. Wird zu sehr die Harmonie in der Partnerschaft gesucht, besteht Erstickungsgefahr. Überwiegt der Wunsch nach Selbstverwirklichung, ist die Partnerschaft schon nach der Phase der Verliebtheit gefährdet.

Zusammenfassend für das Graue des Erwachsenendaseins lässt sich festhalten, dass der Mensch sich nicht nur nicht selbst aussucht, sondern er sucht sich nicht einmal aus, ob oder ob er nicht auf die Welt kommt. Kein Mensch kommt freiwillig auf diese Welt, nicht wenige von uns verdanken ihre Existenz sogar einem „Unfall“. Die Erwartung, dass die Welt auf einen gewartet hat, nur für einen selbst da sei, wenigstens etwas Bestimmtes mit uns gemeint hat, ist aber eine kindliche und sollte sich mit dem Erwachsenwerden verlieren. Der Erwachsene akzeptiert, dass er nicht vom Dahinleben leben kann, sondern muss sich Lebensunterhalt und „Daseinsberechtigung“ auch noch erkämpfen. Natürlich ist das eine Kränkung und Ernüchterung: Dort, wo man nicht freiwillig hingekommen ist, auch noch „Eintritt“ bezahlen zu müssen.

Diese Einschränkungen und Frustrationen, die mit jedem Erwachsenenalter notwendig verbunden sind, gilt es auf möglichst angemessene Art zu verarbeiten. Dazu gehört, dass man sich die Verfehlung von Lebensträumen, Karriereplänen etc. eingesteht und darüber trauert. Viele Depressionen entstehen nicht aus „zu viel“ Trauer, sondern aus zu wenig! Wer nicht getrauert hat, kann die Träume der Kindheit nicht der Erwachsenenvernunft opfern, will immer noch ein kompromissloses Leben mit umfassender Selbstverwirklichung und ohne Schmerz, Angst, Leiden und Unvorhersehbares. Eine solche Haltung ist stolz und unbeugsam, entsprechend ist sie aber auch (selbst)zerstörerisch.

Damit ist die Depression ein Versuch, Verluste nicht zu akzeptieren, sie nicht (wütend) zu betrauern. In der Hingabe an das Leiden, die bei Depressiven oft beobachtet werden kann, dient das Leiden als Ersatz für verlorene (Versorgungs-)Paradiese. Durch die Depression hält man diesen Paradiesen die Treue statt sie als verlorene zu betrauern. Also noch einmal kurz: Depression ist keine Steigerung von Trauer, sondern gerade der Versuch, Unerträgliches nicht zu betrauern, sondern es zu beschönigen und zu entschuldigen. Es ist einfacher, sich als der schlechteste Mensch zu bezeichnen, als einzusehen, dass man „nur“ ein gewöhnlicher, durchschnittlicher, normaler Mensch ist. Gegen ein Leben mit Frustrationen, Widersprüchen und Kompromissen rebelliert der süchtige Mensch, bzw. davor kapituliert der depressive und hält damit hartnäckig und stolz an der Erreichung des Unmöglichen fest, will alles und sofort.

Weniger literarisch, mehr fachsprachlich lassen sich depressiven Verarbeitungsformen als eine regressive Reaktion auf Verluste bzw. eine narzisstische Kränkung bei hohem Ich-Ideal beschreiben. Der depressive Grundkonflikt ist als Komplikation der Bindungsentwicklung zu beschreiben. U.z. derart, dass Säuglinge und Kleinkinder existenziell auf zuverlässige Befriedigung ihrer Bedürfnisse sowie auf sie eingestimmte, empathische Resonanz angewiesen sind. So entwickeln sie Zuversicht, Selbstwirksamkeit und die Grundüberzeugung, willkommen und wertgeschätzt zu sein, verlässliche, wohlmeinende Mittmenschen zu haben. „Es gibt für mich die Möglichkeit, bei einem mir zugewandten Anderen Sicherheit und Wohlbehagen zu finden, folglich bin ich liebeswert!“ Kern des depressiven Grundkonfliktes sind Störungen der Passung und Abstimmung zwischen Kind und Bezugssystem, die für das Kind als verinnerlichter Objektverlust im Bindungsbemühen niederschlägt. Daraus entwickelt sich die Suche nach einem idealen Objekt: „Obwohl ich es dringend brauche, gelingt es mir nicht, ein mir emphatisch zugewandtes Objekt zu erreichen und bei ihm Sicherheit zu finden, folglich bin ich wertlos, ausgeliefert, hilflos.“

Auf dem Boden unsicherer Bindungen entsteht überstarke Abhängigkeit von äußeren oder inneren Objekten bzw. Idealbildungen. Ersteres ist die regressive Verarbeitungsform, letzteres die narzisstische (die oben ausführlich dargestellt wurde). Das oftmals ambivalente Bindungsverhalten (anklammernd, zerstörend) ist Reflex eines wechselnd überfürsorglichen und wenig einfühlsamen Kontaktes mit den primären Bezugspersonen. Der Depressive sucht eine Person, die dem Selbst alles Gute bringt, die es liebt, bestätigt, bewundert, seine Wünsche erfüllt. Gesucht wird Erfüllung, ein Engel, das Glück, der Ruhm, etwas oral-Versorgendes in einem allumfassenden Sinne. In ihrer Sehnsucht sind Depressive oft maßlos, und sie übersehen, dass der Wunsch, „einfach nur glücklich zu sein“, eben kein bescheidener ist: „To look for heaven is to live here in hell” (so der britische Musiker Sting).

Das überhöhte Ich-Ideal („Wenn ich nicht alles erreiche, ist alles nichts!“) macht in extremen Maße von äußerer Stützung abhängig. Das können Bezugspersonen sein, aber auch Objekte oder Ziele, sprich Selbstideal. Das Scheitern am Ideal „bestätigt“ dann die Minderwertigkeitsgefühle. Die Selbstachtung ist so labil, dass die eigene Person nur wertgeschätzt werden kann, wenn ein grandioses Ziel erreicht würde. Vielen depressiven Menschen ist gar nicht bewusst, wie sehr sie überhöhte Ansprüche an sich stellen. Dazu gehört auch, dass sie Erfolge nicht auf die eigene Leistung attribuieren. Um Abschied von der fatalen Sehnsucht nach einem idealen Gegenüber (oder grandiosen Ziel) nehmen zu können, ist Trauer erforderlich. Trauern hilft, uns mit unveränderlichen Dingen zu arrangieren – und diesen Abschied vermeiden depressive Menschen.

Sigmund Freud sprach davon, dass Trauernde um etwas trauern, was sie verloren haben, die Depressiven hängen dem nach, was sie nicht bekommen haben.

Zusammenfassend sind unterschiedliche depressive Verarbeitungsformen geprägt von:

 

(Foto: Edvard Munch, „Melancholy“ – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edvard_Munch_-_Melancholy_(1894).jpg)