Gesellschaft
„Ich in den letzten 90 Jahren“
29. April 2019
Eine spannende Lesung aus dem biografischen Buchprojekt „Lebensbilder“ von Michael Krupp fand am 29. Januar gemeinsam mit den neun portraitierten Seniorinnen und Senioren in den Häusern Paulus und Stephanus/Clarenbachwerk (Großer Saal EG) statt.
Das Selbstportrait, neudeutsch Selfie, ist mittlerweile allgegenwärtig und alltäglich: Ich und mein Mittagessen, ich am Strand, ich beim Feiern. In Zeiten, wo die Fotografie noch seltener und kostbarer war, hielt man oft nur die ganz besonderen Momente fest. Von diesen Momenten, den „Lebensbildern“, erzählt das gleichnamige Buch von Autor Michael Krupp.
Er lässt darin neun Seniorinnen und Senioren, die im Clarenbachwerk wohnen, anhand von selbst ausgewählten Fotografien aus ihrem Leben erzählen und gibt ihre Erinnerungen wieder. Denn wer, wenn nicht Menschen, deren Erinnerungsschatz über die letzten 80 oder 90 Jahre reicht, könnte wohl spannende Geschichten erzählen? Wie sie trotz Fliegeralarm noch die Porzellanpuppe retteten. Wie das Sülzer Waisenhaus von Bomben getroffen wurde. Wie amerikanische Soldaten Schokolade verteilten.
Sie erzählen vom in der DDR zurückgelassenen Klavier oder wie sie West-Geld zu Verwandten schmuggelten. Vom Bau eines Kernkraftwerks für den Schah von Persien und vom Arbeiten im Speisewagen, vom Nordkap bis nach Istanbul. Sie tanzten Rock’n’Roll in Kölner Lokalen, waren Autogrammjäger, als Backfisch auf einer Seine-Brücke oder als „Callas von Nippes“ bekannt. Und sie hoffen auf den siebzigsten Hochzeitstag im Frühjahr, die „Gnaden-Hochzeit“.
Durch viele Gespräche und Nachfragen hat Michael Krupp diese ganz unterschiedlichen und oft verschlungenen Lebenswege herausgearbeitet. „Diese Geschichten sind ein Potenzial, das kaum an die Öffentlichkeit kommt und leider ‚vom Aussterben bedroht‘ ist“, berichtet Krupp. „Über die selbst ausgewählten Bilder kamen wir schnell intensiv ins Gespräch. Das positive Feedback zeigte, wieviel Freude die Senioren an dem kreativ-geistigen Austausch hatten.“
Neben eigenen literarischen Veröffentlichungen leitet der Autor, der Germanistik und Psychologie studiert hat, Literatur-Projekte und Schreibwerkstätten in Schulen und anderen Einrichtungen. Sein Projekt „Lebensbilder“, das von der Diakonie RWL und dem Clarenbachwerk Köln unterstützt wird, fand erstmals in dieser Form statt.
Damit knüpft Michael Krupp auch an die Biografie-Arbeit an, die in der Altenpflege zum Einsatz kommt. Insbesondere in einer neuen Lebensumgebung wie einer Pflegeeinrichtung stärkt es das Selbstverständnis, sich mit der eigenen Lebensgeschichte zu beschäftigen. Selbst bei Menschen mit Demenz kommen beim Betrachten alter Schul- oder Hochzeitsfotos oft noch Erinnerungen hoch, was zu einem Austausch, zu besserem Verständnis und individuellerer Pflege beitragen kann.
In dem der Autor die anrührenden, interessanten, manchmal noch unerzählten Geschichten nachzeichnet, gibt er den portraitierten Menschen in besonderer Weise Gesicht und Stimme. Bei der Lesung werden einige von ihnen selbst aus dem Buch lesen, von ihrem Leben erzählen und ihre „Lebensbilder“ zeigen. Und dabei vielleicht den ein oder anderen anregen, auch die eigene Lebensgeschichte zu reflektieren und wertzuschätzen.