Gesellschaft
Gewaltschutz in Pflegeeinrichtungen
24. November 2024
Zur Gewaltprävention nach der UN-Behindertenrechtskonvention, um jede Form von Gewalt und Missbrauch zu verhindern, ist im Clarenbachwerk seit diesem Jahr die Gewaltschutzbeauftragte Lisa Förderer im Amt und alle Mitarbeitenden werden entsprechend geschult. Dazu gehört auch die schwierige Frage nach den Ursachen von Gewalt in beschützenden Einrichtungen, mit der sich unser Psychologe Dr. Georg Salzberger in diesem Artikel beschäftigt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es gibt nur wenige Sätze wie den Artikel 1 des Grundgesetzes, die vergleichbar verständlich und klar sind, kurz und einfach. Dennoch gibt es immer wieder Grenzüberschreitungen, bei denen die Würde des Menschen angetastet wird. „Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit.“ Leider gilt auch hier, dass es trotzdem zu unzähligen Übergriffen kommt. Zumeist trifft es die Schwachen in der Gesellschaft, die, die sich nicht wehren können: Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, pflegebedürftige, alte und kranke Menschen.
Man kann es nicht anders formulieren: Von Beginn an gehört zu beschützenden Einrichtungen, insbesondere stationären Einrichtungen, auch die Gewalt gegen Schutzbefohlene. Besonders betroffen sind alle Formen von psychiatrischen Einrichtungen, aber auch Pflegeinstitutionen kennen Machtmissbrauch. Ein genereller Risikofaktor für Misshandlung und Vernachlässigung ist die Situation der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins von Menschen, wenn sie aufgrund von Einschränkungen ihrer Autonomie – durch Krankheit, Alter, Behinderung, durch Hilflosigkeit – in einem ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis zu Helfenden stehen.
Ein erhöhtes Risiko für Gewaltereignisse gibt es auch, wenn Bewohner kognitive Einschränkungen haben, aggressives Verhalten zeigen, sozial isoliert sind und in den Alltagsaktivitäten einen erhöhten Unterstützungsbedarf haben. Pflegerischer Machtmissbrauch beginnt mit Grenzüberschreitungen, mit „verbietendem Blick“, unangemessener Wortwahl, geht weiter mit der Verdinglichung von Personen, mit absichtlichem Wartenlassen, mit Vernachlässigung und Medikamentenmissbrauch bis hin zu originär gewalttätigem Verhalten und körperlichen Übergriffen. Selbst die Tötung von Schutzbefohlenen gehört zu beschützenden Einrichtungen.
Grundsätzlich gibt es keine allgemeingültige und einheitliche Definition für die unterschiedlichen Formen von Gewalt. Eine Unterscheidung nach der Schwere der Gewalt hat sich bewährt: Grenzüberschreitungen in Form von respektloser Sprache, respektlosem Umgang, Missachtung der Privatsphäre und Schamverletzungen, verletzenden Äußerungen, Bevormundung; Vernachlässigung als Verweigerung von Hilfe, als Unterversorgung und Unterlassung von notwendigen Maßnahmen oder deren Duldung, als Nichteingreifen bei Übergriffen durch Dritte und das systematische Außerachtlassen individueller Bedürfnisse und persönlicher Wünsche; Misshandlungen, z. B. durch Freiheitsberaubung, Schlagen, Isolieren, Verhöhnung oder entwürdigenden Umgang, durch Quälen oder dessen Androhung.
Außerdem lassen sich bei Gewalt drei Ebenen unterscheiden: Die personelle Gewaltausübung richtet sich direkt von einer Person gegen eine andere. Beispiele für direkte körperliche Gewalt sind alle Arten tätlicher An- oder Übergriffe, gewaltsam durchgeführte Pflegemaßnahmen, grober Umgang, Einschränkung des freien Willens durch freiheitsentziehende Maßnahmen wie Fixierungen oder Gabe von Psychopharmaka, Ignoranz von Schmerzäußerungen. Auch verbale Gewalt wie Beleidigungen und Drohungen gehören dazu, psychische Gewalt wie Erniedrigungen, Ausgrenzungen und Mobbing. Ebenso gehören Vernachlässigungen zur direkten Gewalt und die fürsorgliche Gewalt (Untersagen von selbstbestimmten Handlungen unter dem Deckmantel der Fürsorge oder unter dem Vorwand des Notwendigen).
Und schließlich ist die sexuelle, geschlechtsspezifische Gewalt zu nennen und die soziale Gewalt durch Einsperren, Isolation oder durch Verbot von Kommunikationsmitteln. Die strukturelle Gewalt entsteht indirekt durch die Bedingungen, die durch Institutionen oder Gesetze vorgegeben werden und eingeschränkte Gestaltungs- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten nach sich ziehen. So kann z.B. eine starre Festlegung von Regeln den Tagesablauf pflegebedürftiger Menschen beeinträchtigen oder das Vorenthalten von Rückzugsmöglichkeiten und die Verletzung des Datenschutzes. Die kulturelle Gewalt erfolgt ebenfalls indirekt und baut auf den Werten einer Gesellschaft, Religion und Gemeinschaft auf. Sie entsteht, wenn kulturelle Unterschiede nicht gewürdigt oder abgewertet werden.
Wichtig für den Bereich der institutionellen Pflege ist die anhaltende Abwertung von hochaltrigen Menschen, von Menschen mit Behinderung, von Menschen mit hirnorganischen Psychosyndromen oder psychischen Krankheiten, von vermeintlich das Bruttosozialprodukt belastenden Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Nach wie vor gibt es ein gesamtgesellschaftliches Klima, welches Effizienz und Verwertbarkeit großschreibt und entsprechend weniger leistungsfähige Menschen abgewertet. Gewalttendenzen und Gewalttätigkeit entstehen in der Regel als Ergebnis des Zusammenspiels besagter Bedingungen. Nebenbei sei erwähnt, dass viele Pflegetätigkeiten schon per se eine Grenzverletzung sind – was für Pflegekräfte bedeutet, das im Alltag nicht aus den Augen zu verlieren.
Gewalt in der Pflege, darauf deuten eine Reihe von Untersuchungen, ist ein unbeliebtes, aber dauerhaftes Problem. Das wird nicht gerne gehört und häufig wird gemutmaßt, dass Gewalt in der Pflege der Vergangenheit angehört, weil sich die personellen und institutionellen Bedingungen deutlich verbessert haben. Das mag für die offenen Gewaltformen gelten, für mildere Formen wie Grenzverletzungen, fürsorgliche Gewalt, Vernachlässigung gilt es aber nicht, auch nicht für strukturelle und kulturelle Gewaltformen. Gewalt ist ein so universelles Phänomen, ist ein Alltagsphänomen und kann aus diesem Grund (mit Ausnahme der offenen Gewalt) leicht übersehen werden. Deshalb ist es wichtig, Gewalt weder zu tabuisieren und noch zu dämonisieren.
Das Clarenbachwerk hat sich vor zwei Jahren entschieden, sich der Gewalt in der Pflege intensiv zu widmen – in der vergangenen Ausgabe dieser Zeitung hat sich beispielsweise die Gewaltschutzbeauftragte Lisa Förderer vorgestellt. Unser Engagement fußt dabei einerseits auf der UN-Behindertenrechtskonvention, die dazu verpflichtet, jede Form von Gewalt und Missbrauch zu verhindern. Andererseits hat auch der Gesetzgeber durch die Einführung des § 37a SGB IX die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zum Gewaltschutz zu entwickeln. Wie eine wirkungsvolle Umsetzung des § 37a SGB IX auszusehen hat, hat der Gesetzgeber nicht konkretisiert, hier muss jeder Träger seinen eigenen Weg finden.
Das Clarenbachwerk hat sich entschieden, abgestimmte Maßnahmen für eine gelingende Prävention zu verfolgen. Deshalb haben wir (wie gesagt) bereits eine Gewaltschutzbeauftragte eingesetzt, und wir haben in den ersten Monaten dieses Jahres umfangreiche Schulungen für alle Mitarbeitenden des Werks durchgeführt. Weitere Maßnahmen folgen, so auch mein Artikel, der für das Thema sensibilisieren möchte und der schwierigen Frage nach den Ursachen von Gewalt in der Pflege nachgeht. Das Ziel unseres Schutzkonzeptes ist eine Kultur der Achtsamkeit, Wertschätzung und Anerkennung. Basierend auf der Grundhaltung von Respekt, erfordert diese Kultur neben einem bewussten und reflektierten Umgang mit sich selbst einen behutsamen und wertschätzenden Umgang mit den Mitarbeitenden und den pflege- und hilfebedürftigen Menschen!
Gewalt in der Pflege ist kein neues Thema, seit vielen Jahren beschäftigen sich zahlreiche Akteure mit Übergriff und Gewalt in sorgenden Kontexten. 1961 befasste sich der Soziologe Erving Goffman mit Aspekten institutioneller Gewalt und benannte unter anderem die Aufhebung der Privatsphäre, die Asymmetrie von Macht und die Einbuße der Eigeninitiative durch Tagesstrukturierung als begünstigende Faktoren. Der Gerontopsychiater Rolf-Dieter Hirsch initiierte 1997 den Verein „Handeln statt Misshandeln – Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter e.V.“ mit dem Ziel, für das Thema zu sensibilisieren. Später sammelte er Skandalmeldungen über die Situation in Pflegeheimen in einem sog. „Folterungsausschuss“.
Nimmt man das wörtlich, hieße das, Pflegekräfte würden für absichtliche Quälereien auch noch bezahlt werden. Der Begriff „Folterungsausschuss“ ist meiner Ansicht nach selbst ein Skandal und eine Grenzverletzung. Des Weiteren legte die Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2002 erstmals einen Weltbericht „Gewalt und Gesundheit“ vor. Der Gerontologe Erich Grond beschrieb 2007, dass beruflich Pflegende von Gewalt durch pflegebedürftige Menschen und ihren An- und Zugehörigen sowie durch Kollegen betroffenen sein können.
Und schließlich widmete sich der Psychiater und Initiator der Psychiatriereform, Klaus Dörner, in seinem Buch „Tödliches Mitleid. Zur sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens“ dem Gewaltphänomen, indem er die „soziale Frage“ thematisierte, das heißt, wie geht die Gesellschaft mit den Menschen um, die schwach, krank oder sonst wie „anders“ sind, „unnütz“ und „störend“ gar. Für mich ist das Buch von Klaus Dörner eine der besten Analysen der Bedingungen, die im Betreuungsalltag zu Gewalt führen, und es kann helfen, die weißen Flecken auszufüllen, die Stigmatisierung, Kontroll- und Ausgrenzungsmechanismen in unserem professionellen Selbstverständnis immer noch sind.
Dörner beschreibt, wie im Zuge der Industrialisierung die Frage nach Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Produktivität immer wichtiger wurde, so dass schließlich die Menschen, die abgeschnitten von der Möglichkeit der arbeitenden Selbstverwirklichung waren, ausgemustert wurden, an den Rand gedrängt, nicht selten sogar als Ballastexistenzen abgewertet wurden, womit ihnen das Existenzrecht bestritten wurde. Wenn es primär auf Produktivität und Verwertbarkeit ankommt, werden Menschen als „soziale Frage“ verdinglicht, zu einer Sache gemacht, was den entscheidenden Schritt zu Übergriffigkeit und Gewalt markiert.
Anders formuliert: Wenn das Ziel der modernen Gesellschaft eine Welt von gesunden, schönen, vollständig selbstständigen, produktiven und glücklichen Menschen ist, wenn alles Leid abgeschafft werden soll, dann müssen die abgeschafft oder zumindest geschlossen untergebracht werden, die sich einer solchen ‚Begradigung des Lebens’ entziehen, denn sie erinnern an die skandalöse Unvollkommenheit des Lebens bzw. an die nicht abzuschüttelnde Naturherkunft und Ohnmacht des Menschen.
Die Beseitigung der Leidenden, wenn man schon nicht das Leiden beseitigen kann, ist geschichtliche Tatsache: Die Hexenverbrennungen im Mittelalter waren Ausdruck der blinden Wut darüber, dass der Mensch die Natur nicht brechen kann. Und statt sich einzugestehen, dass die Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens misslingen musste, heften die männlichen Kleriker (darunter so aufgeklärte wie Martin Luther) ihre Angst und Wut über eine leidvolle und ungerechte Welt an das ‚nächstliegende’, an die Frauen, die als naturnäher galten (Gebären, Menstruieren) und das bedrohliche Wesen der Natur symbolisierten. Am Anfang der modernen Zivilisation steht die Verleumdung der Frau als Hexe, als böse Natur und ihre tausendfache Ermordung.
Die Wiederkehr des Verdrängten ist bis heute kritisch für die zivilisierte Gesellschaft geblieben: nicht mehr Ausrottung der Leidenden wird angestrebt, zumindest wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse anderes zulassen, aber immer noch Verdrängung, Abschottung und Abschiebung. Unkontrollierbares, Unbeherrschbares nagt weiterhin am Selbstbewusstsein des vernunftbegabten Tieres Mensch, dem es schwerfällt, Schwäche und Hilflosigkeit in sein Selbstbild zu integrieren. Wie die modernen Gesellschaften im Rahmen einer marktwirtschaftlich bestimmten Ethik den Wert des Menschen vor allem nach seiner Brauchbarkeit bemessen, so sind auch im stationären Betreuungsalltag vielfältige Mechanismen der Verdinglichung und Entwertung beobachtbar.
Das ist ein Aspekt, der wegen seiner Inkompatibilität mit dem Selbstverständnis als gute Helfer, als hilfreiche Therapeuten gern verdrängt wird – und er ist ein Schlüssel für das widersprüchliche Wirken der helfenden Berufe zwischen Hilfe und sozialer Kontrolle, zwischen Heilen und Schädigen. Auch heute noch bestimmen Zwang und Gewalt, Verlust an Autonomie und Menschlichkeit das Erleben von Betroffenen. Oder, wie Klaus Dörner ausführte, das sozialdarwinistische, ideale Bild einer leidensfreien Gesellschaft von Tüchtigen und Starken, gesunden und leistungsfähigen Menschen führt unweigerlich zu einer Aussonderung, Stigmatisierung, Ausgrenzung der sog. Unnützen, Störenden, Kranken, Alten, Pflegebedürftigen, der sog. Ballastexistenzen.
Macht man sich diesen kulturellen Hintergrund der Care-Arbeit bewusst, dann bedeutet das auf der Ebene der Pflege- und Betreuungskräfte, sie müssen einen Umgang finden mit Menschen, die sich der Begradigung entziehen, die ewige Außenseiter der modernen Gesellschaft sind. Üblicherweise gibt es für die allermeisten auch keinen Rückweg in die sog. produktive Arbeitswelt, sie bleiben an ein Dasein als „nur-sozial-sein“ gefesselt. Nur äußerst selten gibt es bei schweren chronischen Krankheiten eine Heilung, beim Altern gar nicht.
Das heißt für die Betreuungskräfte, sie werden permanent mit Erfahrungen von Ohnmacht konfrontiert. Obwohl ständig umtriebig, immer im Stress und alles andere als untätig, erlebt die Pflegekraft im Angesicht von Ausscheidungen und anderen Naturfunktionen, im Angesicht von körperlichen Verfall, Sterben und Tod die Ohnmacht der eigenen Anstrengungen. Da hilft alles nichts, schlussendlich siegt immer die Natur mit ihrer Drift zu Verfall und Tod. Und auch schon vorher gelingt es der Pflegekraft eher selten, einen Schutzbefohlenen glücklich zu machen, auch hier schaut sie überwiegend in unglückliche, unzufriedene Gesichter, die sich trotz aller Bemühungen selten aufhellen lassen. Diese Art der Ohnmacht bei permanenter Anstrengung muss jede Pflegekraft aushalten.
Gerade weil Leid von Mitmenschen immer auch als ein leichter Schuldvorwurf an die eigene Adresse erlebt wird, muss man eine realistische Einschätzung der Grenzen der eigenen Arbeit haben, muss die Ohnmacht, die auch zur Pflege gehört, akzeptieren können. Der Pflegeberuf verschafft wie fast alle sozialen Berufe kaum die narzisstische Befriedigung eines fertigen Produktes, einer zur Zufriedenheit aller erledigten Aufgabe. Entsprechend mehr sind Pflegende Gefühlen der Vergeblichkeit und Vergeudung ausgesetzt.
Die Pflegetätigkeit konfrontiert mit Gefühlen der Sinnlosigkeit, ohne selbst sinnlos zu sein. Das müssen Pflegekräfte aushalten lernen, sollten sich Muße für allerlei ungemütliche Fragen ohne echte Antwort zugestehen. Wird die unabänderliche Ohnmacht als Vorwurf an sich selbst adressiert, kann sie Gewalt den Weg ebnen. Gewalt ist das Gegenstück zu Schmerz und Ohnmacht. Gewalt ist immer auch der verquere Versuch, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Schwäche in ihr Gegenteil zu verkehren. Insofern kann in helfenden Beziehungen Ohnmacht, Frustration im allgemeinen ein Anreiz zu Aggression darstellen.
In den Augen der Angst oder des Schmerzes liest derjenige, der Gewalt ausübt, seine eigene Macht – und kann damit Erfahrungen von Ohnmacht überspielen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass alle Pflegekräfte mit dieser Form der fundamentalen Ohnmacht konfrontiert sind, dennoch greifen längst nicht alle, sondern nur ein sehr kleiner Teil von Pflegekräften zu Gewalt. Das heißt also, dass persönliche Bedingungen hinzukommen müssen. So weiß man beispielsweise, dass Frustration, die sich ein Mensch eingesteht, nicht so schnell zu Gewalt führt, während Niederlagen, Versagungen, Schwächen, die ein Mensch an sich selbst nicht akzeptieren kann, zu Gewalt führen kann.
Die Frustrationstoleranz gilt in der Psychologie als wichtiger Indikator für eine gelungene Entwicklung zu einem erwachsenen Menschen: da kein Mensch immer der klügste, schönste, stärkste etc. ist, er auch nicht jedes seiner Ziele erreicht oder sich jeden Wunsch erfüllen kann, gehört es integral zum Menschsein, mit Frustrationen, mit leidvollen Erfahrungen umgehen zu lernen. Ein Mensch, der derart auch negative Erfahrungen in sein Selbstbild integrieren kann, der nicht immer alles schaffen muss, ist gewöhnlich weniger gewalttätig.
Wo diese Akzeptanz von Grenzen der eigenen Mächtigkeit nicht vorhanden ist, kann es zu einem Verlust der emotionalen Distanz zum als leidend erlebten Betreuten kommen, das Klientel wird verdinglicht, sodass der Schritt, das eigene Klientel nicht mehr als wertvolle Menschen, sondern als sozialen Ballast anzusehen, nicht mehr weit ist – und damit die Grenzverletzung und die Gewaltausübung. Derart hängt Gewalt eng zusammen mit der Beziehung zum hilfsbedürftigen und abhängigen Menschen, mit Nähe und Distanz. Die Reflexion des eigenen Hilfshandelns ist unabdingbar, wozu auch die Auseinandersetzung mit Mitleid, das nicht selten als Movens des Helfens bemüht wird, zählt.
Spätestens seit Nietzsche ist das Motiv des selbstlosen Handelns nur noch ein selbstwertdienlicher Selbstbetrug. Der mitleidende Mensch verschafft sich beim Helfen vor allem selbst Erleichterung. Mitleid ist immer auch Selbstmitleid, außerdem ist Mitleid ein Mittel, sich als stärker, besser, größer zu erleben, das eigene Selbstwertgefühl durch die Abhängigkeit anderer Menschen aufzuwerten. Umgekehrt bringt Mitleid den Bemitleideten um das Ansehen eines vollwertigen Menschseins. Mitleid hat etwas Demütigendes: „Der Umstand, dass alles Schwache und Hilfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt die Gewohnheit mit sich, dass wir alles, was uns zu Herzen spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen – also erst schwach und hilfsbedürftig machen.“
Diese selbstmitleidige Mentalität hat dem Buch von Klaus Dörner den Titel, „Tödliches Mitleid“, gegeben. Das Leiden leugnende Selbstmitleid, die Vision vom leidensfreien Individuum, das des Mitmenschen nicht mehr bedarf, ist der Motor aller Entsolidarisierungsmechanismen. Es findet jegliche Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Unselbständigkeit unerträglich. So wird aus Mitleid, aus einem solidarischen Gefühl eine Waffe, eben das von Dörner sog. „tödliche Mitleid“: Leiden, Schmerzen, chronische Krankheit sind etwas für die Mitmenschen und die Gesellschaft Unerträgliches, das unsichtbar zu machen oder zu beseitigen ist.
Der Hamburger Geistliche und Anstaltsdirektor Friedrich Lensch war zur Zeit des Nationalsozialismus keineswegs der Einzige, der in rhetorischer Absicht die Frage aufwarf, „ob man nicht schon um der Kranken selbst willen sie von diesem Leben, dass doch kaum Leben genannt werden könne, befreien sollte.“ Solche Fragen werden auch heute wieder gestellt und diskutiert. Im Mitleid ist nicht nur Demütigung enthalten, dazu noch mal Nietzsche: „Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert mutig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.“
Mitleid verführt zu übergriffigem Erziehen, zu Bevormundung und Kritisieren. Das aber erschwert die Selbstannahme des Menschen in schwieriger Situation, in der ihm seine Krankheit die eigene Sterblichkeit vor Augen führt, und wo mit dem Lebensentwurf auch das Selbstbild infrage steht. Sozial wäre erst eine Gesellschaft, die das Existenzrecht der Unheilbaren uneingeschränkt anerkennt. Wird Kranksein nur von außen beschrieben, klassifiziert und wie eine Sache behandelt, fehlt die Wendung zu einem konsequent personenzentrierten Zugang, der die Betroffenen als verantwortliche Subjekte ihrer Geschichte, ihrer Krankheit und der Behandlung ernst nimmt.
Zusammenfassend: Der wesentliche Faktor für Gewalt gegen Schutzbefohlene leitet sich von der Qualität der professionellen helfenden Beziehung ab. Das professionelle Bewusstsein von Machtstrukturen und -verhältnissen, eigener Macht und der Gefahr von Machtmissbrauch sowie der Umgang mit Leid und herausforderndem Verhalten in helfenden Beziehungen stehen daher im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Gewaltphänomenen in der Sozialen Arbeit. Die Gefahr für Grenzverletzungen, Übergriffen und Gewalt ist immer dann gegeben, wenn Pflege- und Betreuungskräfte ihre berufliche Rolle unreflektiert ausüben und ihre machtvolle Position, die Abhängigkeit der Pflegebedürftigen auf irgendeine Art „goutieren“, zum Beispiel, weil es ein stabiler Ersatz sein kann für das manchmal ungenügend befriedigte, menschliche Grundbedürfnis nach Gemochtwerden.
Im Kern geht es um die Qualität professioneller Beziehungsarbeit – insbesondere bei den besonders verletzlichen und daher schutzbedürftigen Menschen. Dazu ist eine sehr gute Selbstreflexion der Berufsrolle und der eigenen Persönlichkeit erforderlich, die in Teilen gar nicht so weit entfernt ist von den Anforderungen an Psychotherapeuten. So kann vermieden werden, dass Übergriffe und Misshandlungen die eigene Überforderung kompensieren, Verunsicherung, mangelnde Anerkennung, Stress, unzureichende fachliche Qualifikation oder falsch verstandene Berufsrolle. Besonders kritisch wird es immer dann, wenn in Teams eine allgemeine Kultur der Missachtung, ein raues Sprechen über Schutzbefohlene, deren ausschließliche Wahrnehmung als Arbeit und Aufgabe (Verdinglichung) überhandnehmen. Wenn diese toleriert werden und keine Konsequenzen haben, entsteht eine Kultur der Grenzverletzungen in Teams oder gar in einer ganzen Einrichtung. Gerade weil die Pflegetätigkeit an sich Grenzverletzungen beinhaltet, ist sie anfällig für weitere, kompensatorische Grenzverletzungen. Dr. Georg Salzberger