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Gesellschaft

Geschichtenerzählen hilft

15. Dezember 2023

In Ergänzung zu den „Lebensbildern“ erläutert Georg Salzberger, warum das Erzählen und Aufschreiben von erlebten Geschichten hilft, (altersbedingte) Einschränkungen zu verarbeiten.

Viele haben sicherlich noch den Spruch im Ohr, den man als Kind bei entsprechenden Gelegenheiten zu hören bekam: „Mach‘ doch bitte nicht solche Geschichten!“ Älter und alt geworden, denken wir gerne an die eine oder andere der Geschichten zurück, die man damals nicht machen sollte.

Jetzt, im Alter, ist es zu spät für neue, erlaubte oder unerlaubte, abenteuerliche und spannende Geschichten. Das Leben ist weitgehend gemacht und nicht mehr änderbar, man kann auf Grund schwindender Mobilität nicht mehr einfach neu anfangen. Statt neue Geschichten zu machen, muss man sich von der Erinnerung an die alten „ernähren“.

Warum genau diese Erinnerungsarbeit im Alter so wichtig ist, soll erläutert werden. Alle Betroffenen können ein garstig Lied davon singen, dass das (hohe) Alter, selbst wenn viele negative Stereotypien übertrieben sind, im Vergleich zum mittleren Erwachsenenalter durch eine Reihe von objektiv nicht zu leugnenden Einschränkungen gekennzeichnet ist.

Einschränkungen der Mobilität und der Tod von Verwandten und Freunden führen dazu, weniger Kontakte zu haben. Die Endlichkeit des Lebens rückt stärker ins Blickfeld und kann nicht mehr verdrängt werden. Besonders schmerzlich wird von vielen alten Menschen konstatiert, dass ihr Lebensweg festgelegt ist und nicht mehr geändert werden kann. Die Art und Weise des Lebensentwurfes ist im Alter endgültig, ein Neuanfang utopisch. Mit anderen Worten, man kann eben keine neuen Geschichten mehr machen, kann nicht mehr handelnd auf die Welt einwirken, sondern muss die Endgültigkeit des jeweiligen Lebensentwurfes akzeptieren.

Was aber bleibt dem alten Menschen, wenn man nicht mehr handelnd und aktiv auf die Wirklichkeit einwirken kann? Die Gerontologie hat festgestellt, dass im Alter eine Umorientierung stattfindet. Und zwar wünschen sich die meisten alten Menschen nicht mehr besonders viele Veränderungen (wie das junge Menschen oft tun), sondern tunlichst wenige. An die Stelle eines Selbst- und Lebensentwurfs, der durch Entfaltung und Selbsterweiterung gekennzeichnet ist, tritt stattdessen der Wunsch nach Erhaltung und Stabilität.

Ein solcher Entwicklungsschritt von möglichst viel zu möglichst wenig Veränderung erscheint auch richtig und nützlich zu sein, da mit der Aufrechterhaltung von expansiven und zukunftsorientierten Lebenszielen notwendig eine Frustration einhergeht, weil die Zukunft im Alter weder besonders lang noch attraktiv ist.

Dieser Wunsch nach einem gewissen Maß an Rückzug aus dem aktiven Leben bedeutet aber keineswegs, und das ist der springende Punkt, Inaktivität. In der Psychologie unterscheidet man zwei verschiedene Kontroll- oder Bewältigungsstrategien. Es besteht bei der Erreichung eines Ziels jeweils die Möglichkeit, aktiv die äußere Welt zu beeinflussen oder aber auf das eigene Selbst, die Zielsetzungen und Erwartungshaltungen Einfluss zu nehmen. Erstere Strategie kann man primäre Kontrolle („changing the world“) nennen, letztere sekundäre („changing the self“).

Nun kann man fragen, in welchen Anteilen beide Bewältigungsstrategien über den Lebenslauf verteilt sind. Dabei ergibt sich, dass die Einflussnahme auf die Umwelt und Wirklichkeit im mittleren Erwachsenenalter am größten und effektivsten ist. Deutlich geringer ist sie verständlicherweise in der Kindheit, aber auch im Alter. Dort gewinnen die sekundären Kontrollstrategien wieder an Bedeutung.

Damit ist gemeint, dass im Alter die Fähigkeit abnimmt, sich aktiv und wirkungsvoll mit der Umgebung auseinander zu setzen, aber gleichzeitig ist der Gealterte in der Lage, sich in die jeweilige Lebenslage annehmend einzufügen. Mit anderen Worten nimmt zwar die Vitalität ab, aber gleichzeitig die Lebenserfahrung und vor allem die Akzeptanzfähigkeit zu.

Abgesehen von besagten psychologischen Begriffen: Wie gelingt dem alten Menschen diese Akzeptanz und inwiefern ist auch sie eine Aktivität? Mit anderen Worten, wie gelingt es Menschen, einschränkende Bedingungen des Lebens hinzunehmen? Die wesentliche Strategie, Dinge, die nicht zu ändern sind, hinzunehmen, besteht darin, ihnen einen Sinn zu geben, sie zu deuten und sie sich selbst und anderen zu erklären. Und dies geschieht vor allem, wenn man beginnt, sein Leben zu erzählen!

Zugespitzt kann man den Sachverhalt der primären und sekundären Kontrolle folgendermaßen zusammenfassen: Der Mensch hat entweder die Möglichkeit, Geschichten zu machen oder kann solche erzählen. Letzteres wird im Alter – wie gesagt – immer wichtiger. Gerade die rückschauende Betrachtung des eigenen Lebens ist vonnöten, um sich mit dem Leben auszusöhnen und es so, wie es nun mal geworden ist, zu akzeptieren.

Insofern ist das schlechte Image, welches „Hinnahmestrategien“ haben, unberechtigt. Zum schlechten Ansehen trägt bei, dass die nordwestliche Zivilisation die Veränderungsstrategien auf die Spitze getrieben hat und alles daransetzt, auf die Lebensbedingungen des Menschen einzuwirken und sie zu kontrollieren, möglichst alles Unvorhersehbare, alles Schicksal abzuwenden.

Nichts hinnehmen, sondern alles verändern und selbst machen, lautet die Devise. Vor lauter ‚Tun und Machen‘ aber ist das Hinnehmen, sich Einfügen und Akzeptieren von Unabänderlichem nicht die Stärke unserer Kultur. So verwundert es nicht, dass Strategien, die helfen können, die Unbilden des Lebens getröstet hinzunehmen, an Einfluss verloren haben.

Welchen Wert hat das Geschichtenerzählen für denjenigen, der sich selbst sein Leben erzählt? Anders gefragt, was bringt Menschen dazu, Erlebtes und Widerfahrenes noch einmal erzählend und nachdenkend „wiederzukäuen”? Schließlich hat man es doch selber erlebt und könnte sich diese Arbeit sparen.

So lieblos und rational fragen ja tatsächlich manchmal jüngere Menschen, die sich beim Erzählen von Geschichten und Erfahrungen der älteren langweilen: „Alles längst vorbei.” Sieht man einmal von der Frage ab, ob die heutige Zeit aufgrund des immer schnelleren Wandels in allen Bereichen die Erfahrung, Überlieferung und Tradition weniger wertschätzt, so kann festgehalten werden, dass das Erinnern ein wesentliches Merkmal des Menschen ist.

Das liegt nicht primär daran, mit Erzählungen etwas des eigenen Lebens für die Nachwelt zu erhalten, sondern Erinnerung folgt den Menschen ein Leben lang. In der griechischen Mythologie sind es die „Erynnien“, die Menschen manchmal sogar über den Tod hinaus verfolgen (weshalb die Römer die Erynnien auch Furien nannten).

Diese manchmal wohlwollenden und manchmal strafenden Göttinnen der Mythologie verdeutlichen, warum der Mensch ohne Erinnerung nicht leben kann: Er eignet sich das ihm Widerfahrende immer erst im Nachhinein, in der Erinnerung erst an. Erst erinnernd kann der Mensch ermessen, was ihm passiert ist, was er getan hat, und was es für ihn bedeutet.

Dabei geht die Erinnerung produktiv vor, sie bildet nicht nur die Vergangenheit ab, sondern sie erschafft sie neu. Wenn ich mich erinnernd in vergangene Zeiten zurückversetze, kann ich mich nicht wie in einem Kinofilm zurücklehnen und einfach zuschauen, sondern muss zuerst einmal all das, was mit der Vergangenheit gemeint war, zusammenbuchstabieren, freilegen, in seiner Wirklichkeit erinnern, erzählen, also neu erschaffen.

Erinnerung ist nicht erledigte, sondern nachwirkende Vergangenheit, sie „verfolgt den Menschen im Maße seiner Fremdheit für sich“ (H. Blumenberg). Anders gesagt, das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Als wäre in der gelebten Vergangenheit etwas mitgemeint, in ihr angedeutet gewesen, was erst in der Erinnerung ansatzweise ans Licht kommen kann. Und Erinnern, das sollte deutlich geworden sein, ist ein aktiver Vorgang, ist schon eine Art des Geschichtenerzählens.

Julian Barnes, ein englischer Schriftsteller, formuliert das folgendermaßen: „Es stimmt nicht, dass es sich bei Erinnerung und Phantasie um zwei verschiedene Dinge handelt. Das Gedächtnis ist ein höchst unzuverlässiges Instrument und gleicht eher der Vorstellungskraft. Was wir als Serie von Fakten erinnern, verändert sich jedes Mal, wenn wir davon erzählen. In dem Moment, in dem Menschen über ihr Leben sprechen, erfinden und fabrizieren sie Geschichten.“

Und das ist das Hilfreiche, fast Selbsttherapeutische beim Erzählen, dass man mithilfe von Erinnerung und Einbildungskraft einen neuen Zugang zum eigenen Leben findet. Eigens hervorhebenswert ist außerdem die Distanzierung von sich selbst, die das Erzählen ermöglichen kann. Man kann das eigene Leben nicht erzählen, ohne von Begegnungen mit anderen Menschen zu sprechen, ohne auf die Prägungen durch Eltern und andere zu kommen, ohne sich als Kind einer bestimmten Zeit zu verstehen, das nicht allein von den eigenen Plänen und Vorstellungen abhängig ist, sondern von vielen Umständen, in die man als Individuum eingebunden ist, von denen man umgeben ist und die einen formen.

Im Grunde ist der Mensch ein kollektives Wesen und kann sich selbst nicht kennen, wenn er die Welt nicht kennt, in die er hineingeboren ist. Nicht die Innenschau löst die unerreichbare Forderung „Erkenne dich selbst“ ein, sondern nur der Blick auf den Menschen in seinen Zeitverhältnissen und seiner tätigen Auseinandersetzung mit der Welt. So wird man während des Erzählens des eigenen Lebens zu einer Person unter vielen anderen, man ist nicht mehr allein die Hauptperson im eigenen Leben.

Und durch diese Distanz zu sich selbst gelangt man manchmal auch zu einem neuen Verständnis des einem Zugestoßenen, des eigenen Lebens. Mit dem Lob auf die heilsame Funktion des Erzählens will ich auch auf eine Vielzahl von Projekten hinweisen, die versuchen, das, was alte Menschen sowieso tun, nämlich ihr Leben in Erinnerungen und Geschichten Revue passieren zu lassen, zu unterstützen. In sogenannten Erzähl-Cafés treffen sich Senioren, um sich gegenseitig aus ihrem Leben zu erzählen. Häufig wird über ein Forum versucht, die Geschichten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Auch das Clarenbachwerk hat zum zweiten und nicht zum letzten Mal ein Buchprojekt unterstützt, in dem Bewohnerinnen und Bewohner markante Stationen ihres Lebens erzählen. Vielleicht können diese Projekte auch andere Bewohner animieren, die selbst erlebten Geschichten wichtig zu nehmen und sie auf irgendeine Art und Weise aufzubewahren! Die Wichtigkeit solcher Erinnerungsarbeit kann gar nicht übertrieben werden. Der Mensch lebt davon, in Geschichten sein Lebensgeschick zu verarbeiten und zu deuten.

Die sogenannt schöne Literatur ist ein Fundus an Geschichten, die vom Zusammenprall der Realität mit den Wünschen, Zielen, Träumen und Enttäuschungen des Menschen handelt. Zu allen Zeiten haben die Menschen nicht nur die geschätzt, die Geschichten erleben und Abenteuer bestehen, sondern auch die, die von solchen Ereignissen spannend erzählen können.

Dr. Georg Salzberger