Hauszeitschrift
Lebensbilder FKH Teil 2
16. Dezember 2024
(„Vom Suchen und Finden“ – Auszug aus der Biografie von Anne Wegner)
Mein Name ist Anne Wegner. Ich bin in Gelsenkirchen geboren und mit vier Geschwistern in einem Vorort von Hannover aufgewachsen. Kunst hat in unserer Familie schon immer eine besondere Rolle gespielt. Die erste Kunsterziehung habe ich durch meinen Großvater Johannes Lebek erhalten (…). Er war Holzschneider und Illustrator und lehrte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. (…)
Schon als Kind hatte ich einen großen Freiheits- und Bewegungsdrang, der sich als Jugendliche eher noch verstärkt hat. Mit meiner damaligen Freundin Babette teilte ich eine ausgeprägte Leidenschaft fürs Tanzen. (…) Mit anderen Freundinnen war ich zu der Zeit, vor allem natürlich in den Sommerferien, sehr gerne auch mit Interrail unterwegs. (…) Später, im Sommer 1981, bin ich alleine durch Frankreich getrampt. Meinen Eltern hatte ich vorgeflunkert, dass ich in Metz wegen einer Ausbildung zur Urlaubs-Animateurin sei, was auch nicht gelogen war. Aber anschließend war ich noch zwei Wochen per Autostopp quer durch Frankreich unterwegs, unter anderem um einen jungen Mann wiederzutreffen, für den ich schwärmte. (…)
Nach dem Abitur im Sommer 1983 beschloss ich, Hannover zu verlassen und in Straßburg zu studieren. Ich schrieb mich für Philosophie und Ägyptologie ein. Aber in Wirklichkeit habe ich Tag und Nacht gemalt und Skulpturen geschaffen, um mich an einer Kunsthochschule zu bewerben.(…) Als ich dann jedoch nach Paris gehen wollte, wo mir von Freunden sogar eine Wohnung angeboten wurde, platzte meinem Vater der Kragen und er verlangte, dass ich nach Deutschland zurückkehrte. (…)
Kurzentschlossen entschied ich mich also für Berlin, wo ich mich für Philosophie und Religionswissenschaft einschrieb, aber auch weiterhin viel malte. (…) Seinerzeit kamen gerade die sogenannten „Jungen Wilden“ ganz groß raus … Nach einem Jahr wurde mir das aber alles zu viel. Ich hatte Angst abzurutschen, ähnlich wie meine Mitbewohnerin, die zunehmend den Boden unter den Füßen verlor. So begann ich eine handfeste Tischlerlehre, die ich zweieinhalb Jahre später mit dem Gesellenbrief abschloss. (…) Die Zeit nach der Lehre in einer kleinen Berliner Tischlerei empfand ich als absolute Bereicherung, mit zwei wunderbaren Kollegen und dem besten Chef, den ich je hatte.
Unterdessen ereignete sich 1989 Weltgeschichte. Die deutsch-deutsche Mauer fiel und nur wenige hundert Meter von der Werkstatt entfernt konnte ich dieses unglaubliche Ereignis abends am 9. November mit eigenen Augen erleben. Aufregende Jahre folgten, in denen Berlin eine tiefgreifende Umgestaltung erfuhr.
Eines Tages erinnerte mich mein Tischlerei-Chef daran, dass ich doch eigentlich studieren wollte. Ein Neuanfang stand bevor. Aber was sollte ich machen, nachdem die Hochschule der Künste mich nicht angenommen hatte (…) Ich geriet in eine Krise. Meine Schwester Beate hat mir geholfen, mich bei der ZVS für Architektur zu bewerben. Zu meinem Erstaunen bekam ich sofort einen Studienplatz, zunächst an der Fachhochschule Berlin. Aber das Programm hat mir nicht gefallen. Deshalb bin ich später an die Technische Universität Berlin gewechselt.
Obwohl ich angenommen wurde, war ich noch lange unsicher, ob ich den Ansprüchen des Studiums überhaupt gewachsen war. Bei meinem ersten Entwurf schwor ich mir: „Wenn du jetzt versagst, hörst du auf!“ Aber meine Arbeit wurde doch tatsächlich unter die drei besten Entwürfe von etwa 100 Mitstudierenden ausgewählt. Die erste hohe Hürde war genommen. Das Studium war eine erfüllte Zeit, für die ich ausgesprochen dankbar bin. Es war natürlich mein Traum, in Zukunft einmal eine erfolgreiche Architektin zu werden. Während meines Studiums wurde in Berlin extrem viel gebaut, der Potsdamer Platz war die größte Baustelle Europas. Architekten, die mich damals besonders begeistert haben, waren unter anderem Frank Gehry und Rem Koolhaas. Auch das Bauhaus begeisterte uns immer noch. (…)
1999 erwarb ich meinen Hochschulabschluss als Diplom-Ingenieurin der Architektur. Ich hatte große Pläne, spielte mit dem Gedanken in ein renommiertes Architekturbüro nach Paris zu gehen. Vor allem der Städtebau interessierte mich. Ich hatte schon erste Kontakte geknüpft, als ich erfuhr, dass mein Vater an Krebs erkrankt war. Es folgte ein schweres Jahr, bis mein Vater schließlich starb. Es fühlte sich wie ein Erdrutsch für mich an. In dieser Zeit habe ich meine Pläne, nach Paris zu gehen, aufgegeben und freiberuflich in Berlin gearbeitet. Im Jahr 2000 fand ich eine Festanstellung in Dortmund, ein Jahr später wechselte ich nach München.
Eine Freundin hat mich dann nach Island gelockt. Es folgte ein neunmonatiges Abenteuer, das mir unvergessliche Momente in der atemberaubenden, vulkanischen Natur Islands und das Erlebnis der fast magisch weißen Polarlichter bescherte. Beruflich war es aber eine Enttäuschung. Der versprochene Auftrag blieb aus, letztendlich gab es nur kleine Jobs in Husavik und Rejkjavik. Irgendwann ging mir das Geld aus und ich kehrte zurück nach Deutschland, wo ich zunächst bei meiner Mutter lebte. Im Jahr 2004 habe ich mich wieder auf Arbeitssuche begeben, diesmal in Hannover. Aber es gab keine Tätigkeit, die mir auf Dauer Freude gemacht hat. Ich kam an einen Punkt, an dem ich einfach nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte.
Nach der Lektüre eines Buches von Paulo Coelho habe ich den Jakobsweg für mich entdeckt. Im Sommer 2005 startete ich meine Pilgerwanderung in Bilbao trotz einer Grippe-Erkrankung, die ich mir kurz zuvor eingefangen hatte. Etwa vier Wochen später, pünktlich zum Festtag des heiligen Jakobus, am 25. Juli, erreichte ich Santiago de Compostela. Was für ein Geschenk! Ein unvergessliches Erlebnis, das ich mit tollen Wegbegleitern teilte, die man unterwegs und in den Herbergen immer wieder traf und die schnell zu Freunden wurden. (…)
Auf dem Jakobsweg fand ich zum Glauben an Jesus Christus. Gewissermaßen bin ich aus dem Dunklen ins Licht getreten. (…) Nach der Rückkehr fiel es mir schwer, wieder in den Alltag zurückzufinden. Bis ich einen Job in einem Kölner Architekturbüro fand und zunächst in einer WG im charmanten Agnesviertel, später dann in einer eigenen Wohnung im lebendigen Nippes wohnte. (…) Nach zehn Jahren Pause begann ich endlich wieder zu malen. Ich fand passende Atelierräume, zuerst in Nippes, dann im Kunstverein Dormagen auf dem Gelände von Kloster Knechtsteden. Ich experimentierte mit wechselnden Stilen und Techniken.
Nachdem ich auch einige Jahre in einer Freikirche aktiv war, schloss ich mich schließlich einem Kreis von Gläubigen in Groß St. Martin an, wo die französische „Monastische Gemeinschaft von Jerusalem“ beheimatet ist. Mit 50 Jahren bin ich dann wieder in die katholische Kirche eingetreten. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was die offizielle Kirche vertritt, aber ich glaube doch vor allem an die Güte Gottes, dass er etwas Gutes für mich will. Ich glaube, dass dieser Weg einen Sinn hat …
Im Mai 2018, kurz nach Christi Himmelfahrt, stellte ich plötzlich Lähmungs-erscheinungen am rechten Bein und Arm fest. Der von mir angerufene Rettungsdienst brachte mich zum Heilig-Geist-Krankenhaus nach Köln-Longerich, wo im Anschluss eines CTs zwei Tumore nahe am Hirnstamm diagnostiziert wurden. Man verlegte mich in die Uni-Klinik und riet mir eindringlich zu einer sofortigen Operation. Während der 14-stündigen Operation kam es zu einer Hirnischämie, die einen schicksalhaften Einschnitt in mein Leben bedeutete. Meine Beweglichkeit war mir von dem Tag an zunächst vollständig genommen. Viele Wochen lag ich auf der Intensivstation mit einer nicht funktionierenden Klimaanlage im heißen Sommer 2018. Man beatmete mich künstlich, sprechen konnte ich nicht. Erst langsam habe ich das Atmen und Sprechen wieder gelernt, kommunizieren konnte ich anfangs bloß mit den Augen. Wenn ich sie schloss, hieß das „Nein“, wenn ich sie öffnete „Ja“. Zum Glück entschied man sich aber gegen einen Luftröhrenschnitt, so konnte ich allmählich wieder auf natürliche Weise atmen lernen und sogar mein Stimmvolumen nach und nach so verbessern, dass ich mittlerweile wieder singen kann, was mir ziemlich wichtig ist.
Für meine Umgebung, vor allem für meine Geschwister war das alles ein gewaltiger Schock. Das alte Leben habe ich lassen müssen, zugleich habe ich ein Neues bekommen. Es klingt wie ein Paradox, aber im Glauben wurde ich neu geboren. Ich glaube fest daran, dass Gott einen Plan für mich hat und ich gehe diesen Weg mit Vertrauen und Zuversicht. In diesem neuen Leben habe ich eine Aufgabe erhalten, so wie andere Eltern sind und Kinder groß ziehen, einen Beruf ausüben oder sonstigen Tätigkeiten nachgehen. Das Wichtigste ist, dass ich an die Güte Gottes glaube und dieses Leben mit starken körperlichen Einschränkungen mich noch fester an Gott bindet. Dafür bin ich dankbar, wenn es auch nicht jeden Tag einfach ist.
Vieles ist eine Geduldsprobe. Aber wenn ich so zurückschaue, hat sich auch so einiges zum deutlich Positiven hin entwickelt. In den ersten Wochen nach der Intensivstation bin ich in der Reha in Köln-Merheim liebevoll gepflegt und umhegt worden. Meine Familie, Freunde, befreundete Ordensschwestern, verschiedene Pflegekräfte und selbst mein Beichtvater trugen alle auf ihre Art und Weise einen Teil dazu bei, dass ich kleine Fortschritte machen konnte. Viele Karten und Geschenke erreichten mich in dieser Zeit, und man hat sie so schön auf dem Tisch arrangiert, dass er fast aussah wie ein Altar. Durch einen glücklichen Umstand konnte ich einen Tag nach Aschermittwoch 2019 ins Frida Kahlo Haus einziehen. Das erste Jahr war sehr schwierig, anfangs konnte ich kaum selber essen, nicht einmal selbständig aufrecht sitzen. Lange habe ich nur geflüstert.
Einen großen Schub nach vorne hat mir eine vierwöchige Intensivtherapie in Herdecke gegeben … da bekam ich täglich mehrere Einheiten Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Auch hier im Haus und in einem nahe gelegenen Therapiezentrum bekomme ich ausgezeichnete Therapien, die mich meinem Ziel immer näher bringen.
Ein riesiges Glück für mich sind die Kunst-Angebote von Herrn Kromath hier im Atelier des Frida Kahlo Hauses. Ich weiß noch, wie ich bei meinen ersten Malversuchen nur mit Not den Pinsel halten konnte und nur grobe Striche hinbekam. Drei Wochen später habe ich dann mein erstes Bild hier gemalt. Das war fast wie ein Wunder. Mittlerweile sind weitere Arbeiten gefolgt und jeden Mittwoch kann ich daran anknüpfen, was mir zeitlebens von zentraler Bedeutung war: Mich mit Hilfe von Pinsel, Farbe und Leinwand auszudrücken. Ob als junge Studentin, als abenteuerlustige Frau auf Sinnsuche oder im Rollstuhl sitzend, meine zahlreichen Träume als Inspiration nutzend. Für meine Bilder brauche ich viel Ruhe und viel Geduld, in der Corona-Zeit hatte ich reichlich davon.
Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie ich 2017 einmal in St. Thomas in der Eifel bei einem Exerzitien-Aufenthalt war. Zehn Tage lang beten, schweigen, spazieren gehen und in mich hineinhören. Ich habe damals Stift und Papier mitgenommen und jeden Tag ein Bild gemalt, das ich hinterher auf Leinwand übertragen habe. Es waren ganz besondere Lichtmomente der Inspiration.
Heute blicke ich positiv in die Zukunft und bin eine Kämpferin. Tagtäglich staune ich, dass trotz vieler Widerstände und Einschränkungen mein Leben so bunt ist, und ich mich an kleinen Dingen in einer Weise erfreuen kann, wie niemals zuvor.
Der vollständige Beitrag – und noch weitere lesenswerte Biografien der Bewohnerinnen und Bewohner – im Band „Lebensbilder“ aus dem Frida Kahlo Haus. Das Buch ist – gegen eine Spende in beliebiger Höhe für eine Rollstuhl-Rikscha – erhältlich unter bzw. Tel. 0221-4985-220.