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Gesellschaft

Politisierte Unzufriedenheit

08. Dezember 2025

Es wird häufig darüber diskutiert, warum immer mehr Bürger extrem rechte Parteien wie die AfD wählen: Die üblichen Verstehensversuche laufen darauf hinaus, sich zu fragen, wer für den Rechtsruck verantwortlich ist – die berühmte Schuldfrage. So werfen sich die etablierten Parteien gegenseitig vor, sie wären am Erstarken der rechten Ränder schuld.

Die Presse macht dafür ein Versagen der Regierungspolitik verantwortlich. In dieser Lesart mussten die Menschen „rechts“ wählen, um ihrem Anliegen, ihrem Frust, ihrer Enttäuschung und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. „Gezwungen, rechts zu wählen“, das scheint die Quintessenz aller Argumente. Mal ist es die erratische Politik der Ampelkoalition, die die Wähler in die Fänge der Rechtsradikalen treibt, vor einigen Jahren war es noch Angela Merkel, die als CDU-Kanzlerin eine zu linke (und zu „migrationsfreundliche“) Politik gemacht hat. Gehöre ich zu den wenigen, die dieser geballten Unverantwortlichkeit nicht so recht folgen wollen? Haben Angela Merkel und die Ampelkoalitionäre alle AfD gewählt und so zu ihrem Erstarken beigetragen? Haben die Wähler der AfD ihr Kreuz auf dem Wahlzettel gar nicht selbst gemacht? Wer hat ihnen die Hand geführt?

Wer die Wähler der AfD derart mit einer Zwangslage entschuldigt, nimmt die Wähler nicht ernst. Die Verantwortung für das Wahlvotum hat bekanntlich der Wähler und ihm die Eigenverantwortung für sein Wahlverhalten abzunehmen, entmündigt sie. Meine Schlussfolgerung daraus: Wer rechtsextrem wählt, wählt rechtsextrem, weil er mit rechtsextremen Ansichten sympathisiert. Es wird Zeit, sich dieser traurigen Wahrheit zu stellen. Unstrittig ist aber auch, dass es unter den Wählern der AfD auch einen hohen Prozentsatz von sogenannten Protestwählern gibt. 

Und manchmal spielt beides eine Rolle: eine rechtsextreme Gesinnung und der Protest. Richtig ist, dass eine laut artikulierte Unzufriedenheit als das entscheidende Motiv der AfD-Wahl angesehen wird und richtig ist auch, dass diese Unzufriedenheit in allen Wählergruppen verbreitet ist. Was artikuliert sich in dieser Unzufriedenheit? Erstaunlicherweise handelt es sich um eine sehr unspezifische, diffuse Unzufriedenheit. Versuchen wir mal, die Unzufriedenheit zu Wort kommen zu lassen. „Abstiegsängste, bundesdeutsche Nostalgie, Aversion gegen Zuwanderung, Wut über marode Schulen und verspätete Züge, Enttäuschung über eine Politik der Bevormundung“, so Thomas Schmid. Ähnlich beschrieb es auch der sächsische Journalist Alexander Schneider für die neuen Bundesländer: „Wenn hier 30 bis 40 Prozent der Meinung sind, dass alles furchtbar ist, dass wir in einer Diktatur leben und der Staat übergriffig ist, verstehe ich das nicht.

Wir hatten hier Arbeitslosigkeit, die wirklich viele Menschen extrem belastet hat. Das Thema ist durch, wir haben Vollbeschäftigung, wir haben Neuansiedlungen, den Menschen geht es gut. Die Straßen sehen geleckt aus im Vergleich zu manchen Orten im Westen. Trotzdem äußert sich eine riesengroße Unzufriedenheit. Es wird auf die Medien geschimpft, auf die Politik, auf alles. Wenn man versucht, zu ergründen, was die Menschen stört, kommt – nichts“ bzw. nur der Verweis auf „zu viele“ Migranten.

Andere Stimmungsbilder finden sich zuhauf: Viele eint das trotzige Gefühl, dass der Staat sich zu viel herausnimmt, irgendjemand fühlt sich immer bevormundet, ignoriert oder missverstanden. Außerdem gäbe es so viele, irritierende Momente in unserem modernen Leben: familiäre und soziale Bindungen lösen sich auf, metaphysisch ist schon lange nicht mehr viel los, unbezahlbare Mieten, wegrationalisierte Postfilialen, marode Autobahnbrücken, mehr Burnout-Diagnosen. Nochmal der Journalist Th. Schmid: „Das alles mag mitspielen, erklärt aber überhaupt nicht, warum so viele Menschen einer Partei ihre Stimme geben, die die Grundfesten dieser Republik erschüttern will. Deren Quersumme wird zu einer fixen Idee: totales Versagen der Politik“, sodass die Bürger quasi aus Notwehr AfD wählen müssten. Übersehen wird allerdings, dass es bei beträchtlichen Teilen der fordernde Bürger selbst ist, der den Staat auf den paternalistischen Weg der Allzuständigkeit lockt und so selbst für die Enttäuschung dieser selbst geschürten Erwartung sorgt.

Zusammenfassend bleibt es vor allem diffus, so richtig überzeugen die Motive nicht, eine wirkliche Faktenbasis hat die Unzufriedenheit offensichtlich nicht, sie ist und bleibt vor allem: irgendwie unzufrieden, allgemeine „Verlustängste“. Man kann, jetzt kommt die Psychologie ins Spiel, sogar feststellen, dass die Unzufriedenheit offensichtlich gar nicht politisch motiviert ist, sondern es handelt sich um eine „politisierte Unzufriedenheit“, also eine allgemeine Lebensunzufriedenheit, für die die Politik verantwortlich gemacht wird.

Zum Beispiel, weil sich ganz allgemein die Politik für sie, die sich abgehängt fühlen, nicht ausreichend interessiere – was immer das bedeutet. Derart beharren viele auf ihrem depressiven Trotz, sie sind stolz darauf, unheilbar verstimmt zu sein. Das wiederum gemahnt an die lebensgeschichtlich fundierte Depression. Auch depressive Menschen kann man als Könige der Unzufriedenheit bezeichnen, bzw. kann die Depression zum Königsein verhelfen, denn schließlich kann nichts und niemand den Depressiven zufriedenstellen, er wird per se der teilweise theatralisch überhöhten Untröstbarkeit die unerschütterliche Treue halten.

Derartige, meist milde Depressionsformen können auch als Versuch gelesen werden, nicht erwachsen werden zu wollen, weil Erwachsensein bedeuten würde, nicht darauf zu warten, dass die Welt einen zufriedenstellt, sondern dass man selbst lernt, sich zufrieden zu geben! Die Kunst besteht darin, die Wunschenergien nicht mehr auf das eigene Ich zu richten, sondern von sich weg auf die Welt. Und vor allem, dass man lernt, sich mit Unverfügbarem, Vorgegebenem zu arrangieren. Jean-Paul Sartre hat gesagt, ab dem 40. Lebensjahr sei man sogar für sein Gesicht verantwortlich.

Damit ist gemeint, dass der Erwachsene die Verantwortung auch für das zu übernehmen hat, was er nicht selbst gemacht hat, was er vorgefunden hat. Dazu gehört vor allem die Person, die man nun einmal ist und die man ja gerade nicht selbst gemacht hat. Ob man Frau oder Mann ist, schön oder weniger schön, klug, sportlich, welchen Charakter man hat (usw.) gehört gerade zu den Eigenschaften, auf die man keinen Einfluss hat. Trotzdem muss man sich mit sich arrangieren, versöhnen, auch wenn man nicht so ist, wie man sich selbst gewünscht hätte. 

Es wird zwar überall propagiert, man könne alles erreichen und alles sein, wenn man nur wolle, aber das ist natürlich Blödsinn: Der Mensch ist mehr das Vorgefundene als das Selbstgemachte. Dafür andere, den Staat beispielweise, verantwortlich zu machen, ist kindlich. Die Politik ist weder Dienstleister noch Angestellter seiner Bürger, die er tunlichst in Ruhe zu lassen hat. Dennoch tun AfD-Wähler so, als müssten sie rechts wählen, weil der Staat ihnen kein Paradies auf silbernem Tablett serviert. Damit zeigen sie auch, dass die Erwartungen an die Politik gestiegen sind: drei von vier Befragten erwarten, dass der Staat sogar Verantwortung trägt für allgemeine Lebensrisiken wie Alter und Krankheit.

Erwachsensein dagegen heißt, solche Erwartungen nicht zu hegen, nur das macht frei. Freiheit – jetzt wird’s philosophisch – ist im Grunde eine innere Einstellung, durch die man den äußeren Zumutungen, gegen die man nicht ankommt, dennoch überlegen ist. Das macht die Kompensationstüchtigkeit des Mängelwesens Mensch aus: sich zu sich selbst, zu seinen Höhen und Tiefen, noch einmal ausgleichend verhalten zu können. So bleibt, vom Extrem her gedacht, auch ein Mensch in Ketten frei, ein selbstbestimmtes Verhältnis zu seiner Situation einzunehmen. 

Die individuelle Freiheit ist der Operationsmodus für menschliches Handeln, mag es noch so sehr unter Sachzwängen stehen – eine anthropologische Einsicht von provokativer Kraft (Sloterdijk). Und diese Freiheit ist nichts anderes als geglücktes Erwachsensein. Ins Politische gewendet heißt das, nicht nur die Bürger haben Grund zur Politikerbeschimpfung, sondern umgekehrt haben auch Politiker gute Gründe für eine Wählerbeschimpfung!

Diese diffuse, unerwachsene Unzufriedenheit führt nicht zwangsläufig zur Wahl autoritärer Politikprogramme, sondern die Auseinandersetzung mit einer derartigen Unzufriedenheit ist eine typische Aufgabe des Erwachsenenlebens. Radikale Parteien können sich aber als Ort anbieten, wo die Unzufriedenen ihre realen oder vorgestellten Beschwernisse abladen können. So wird die Unzufriedenheit sozusagen bewässert und gedüngt statt vom Betroffenen bearbeitet. Deshalb soll hier noch für die in unseren Breitengraden zu kurz gekommene Kunst der Niederlage als gelungene Überwindung der diffusen, quengeligen Unzufriedenheit geworben werden. Vielfach wird der Aufstieg der Rechten dem Ressentiment, so wie Nietzsche es verstanden hat, zugeschrieben. 

Mit Ressentiment ist ein versteckter Groll über eine unverdaute Niederlage gemeint, eine nicht akzeptierte Niederlage. Und für diesen Groll, z. B. über nicht erreichte Lebens- oder Berufsziele, wird ein Schuldiger gesucht. Dass die meisten Niederlagen nichts mit persönlichem Scheitern zu tun haben, dass Niederlagen nicht selbst verschuldet sind, ist sicherlich richtig. Kein Mensch entscheidet über seinen Platz auf der Welt und in der Gesellschaft. Und kein Mensch wird ohne das subjektive Gefühl der Kränkung aufgrund verletzten Stolzes, wahrgenommener Missachtung, Ängsten vor Unzulänglichkeit durch sein Leben kommen. Sprich ohne Niederlage geht es nicht. 

Sogar Roger Federer, der weit über 95 Prozent seiner Tennismatches gewonnen hat, sagte: „Die Wahrheit ist, egal welches Spiel man im Leben spielt, manchmal wird man verlieren. Einen Punkt, ein Match, eine Saison, einen Job.“ Aber dass man eine erlebte Niederlage nur zu einem sehr kleinen Teil selbst verschuldet hat, heißt im Umkehrschluss nicht, dass sie jemand anderes verschuldet hat. Allerdings dürfen in gut situierten Leistungsgesellschaften Niederlagen nicht vorkommen. Mit der Säkularisierung der christlichen Jenseitshoffnung auf das irdische Leben durfte man hoffen, nicht aufs Paradies, aber auf etwas ähnliches. Bis zum Beginn der Moderne hatten Menschen gelernt, nicht zu träumen, sondern zu akzeptieren, wer man ist, wie man ist und wo man ist. Wir Modernen hingegen leben unsere Träume, wollen sein, wie wir uns idealiter vorstellen, wollen erreichen, was immer wir wünschen. Erfolg und Selbstverwirklichung sollen selbstverständlich sein. Elend, Krankheit und Misserfolg hingegen soll es nicht mehr geben.

Aber an unseren Wünschen und Idealen dockt die Enttäuschung gnadenlos an. Moderner Individualismus ist von Haus aus mit Enttäuschung verbunden. Emanzipation aus Vorgeblichem, Überwindung von allen Hindernissen und Hürden – von hier aus ist der Weg in die Frustration und Kränkung nicht weit, der Traum vom ewigen Siegen ist eine gefährliche Utopie. Allerdings attribuiert gerade der Erfolglose, Gescheiterte, Verlierer sein Versagen als selbstverschuldet und schämt sich dafür. Dann wird aus einer verständlichen Niederlage gegen die Übermacht der Welt eine Niederlage aus eigenem Unvermögen. 

Dabei müsste es eigentlich heißen: Alle sind zu kurz gekommen, kein Grund für Ressentiment und Groll! Misserfolge sind nicht dem eigenen Unvermögen zuzuschreiben, sondern dem Lauf der Welt! „Grausamer Optimismus“ wird das Oszillieren zwischen Sehnsucht und Enttäuschung von Soziologen genannt. Die klaffende Lücke zwischen dem, was wir sind und dem, was wir sein wollen, erschwert Selbstwertgefühl und Selbstachtung. „Für einige Soziologen ist die Diskrepanz zwischen dem, was man sein möchte, und dem, was man ist, sowie die Unmöglichkeit, diese Diskrepanz zu überwinden, das Charakteristikum der Moderne“ (Eva Illouz).

Deshalb plädiert der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz dafür, offensiver mit Verlusten und Verlustängsten umzugehen. „Verluste erscheinen nur als Enttäuschung, als etwas, das es eigentlich nicht geben dürfte, das im Grunde sinnlos ist. Oft werden sie beschwiegen oder die Verlierer beschämt: Sie sollen sich halt nicht so anstellen.“ Die fortschrittsorientierte Moderne habe kein kulturelles Skript für den Umgang mit Verlusten. Künftig werde so etwas wie gesellschaftliche Trauerarbeit immer wichtiger. Werden Verluste nicht akzeptiert, bleiben Verluste unverdaut, entsteht besagter Groll und die Suche nach einer Person oder Gruppe von Personen beginnt, die die Verluste schuld sein sollen.

Das Schicksal oder der Kapitalismus oder die Umstände taugen als Erklärung nicht. Und der Groll lässt alle Formen von Populismus erstarken, der auch vor allem Schuldige sucht und diese in Migranten zu finden meint. Der Populismus spitzt alles auf ein „Täter-Opfer-Narrativ“ zu. Nicht nur Recknitz plädiert für einen anderen Umgang mit Verlusten, sondern auch Wilhelm Schmid, der sich der Frustration widmet.

Woher kommt der Frust, woher die Wut vieler Bürger? „Sie entspringt der Logik des Seins, aus dem Bewusstsein, dass es außer dem wirklichen auch ein mögliches Sein gibt. Das wiederholt sich in jedem Kind, dem bewusst wird, was möglich ist, sodass es in Wut gerät, wenn ihm jemand die Süßigkeit vorenthält, die es haben will. Dem Wütenden fehlt Verständnis dafür, dass er nicht bekommt, was er will. Später, wenn er älter wird, kocht Wut hoch über die Wirklichkeit des Lebens, das hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist.“ Oder wenn die Zeit schwindet, um Träume noch zu verwirklichen. „Wut wird ausgelöst von einer Hoffnung, die enttäuscht wurde. Alle hoffen, dass ihnen im Leben Glück zuteil wird. Zu viele glauben, dass der Staat neben Sicherheit auch Glück garantieren muss.“

Wenn ich dem Staat die Schuld gebe, kein Glück zu haben mit mir oder meinem Leben, dann werde ich ein Wutbürger. „Dass ein permanent glückliches Leben ohnehin nicht zu haben ist, lasten sie dem ‚System‘ an, nur nicht dem Leben, das in Wahrheit dafür sorgt, dass Glück für niemanden dauerhaft ist.“ „Wutbürger sind Idealisten, die die ideale Gesellschaft herbeiführen wollen, in der das Negative aufgehoben wäre.“ Das ontologische Grundproblem ist, dass nicht alles wirklich wurde, was man sich gewünscht hat. Das Leben könnte so schön sein, wenn bloß die verdammte Realität nicht wäre.

Lebenskunst ist nicht, dass alles gelingt, das ist ein tragischer Irrtum. Lebenskunst hilft dabei, damit leben zu lernen, dass nicht alles gelingt! Menschen verfügen nicht über ihr Leben. Warum sind ärmere Menschen oftmals glücklicher? Weil sie bescheidener sind, nicht weil sie ärmer sind, weil sie weniger mit Reichtum rechnen oder damit, dass dieser das Glück wäre. Das konnte ich in Afrika ständig erleben: Die lachenden, vitaler wirkenden Afrikaner leben nahe an der Armut und dem Tod, die Tatsachen des kreatürlichen Lebens sind dort offensichtlicher und werden nicht versteckt, ummantelt, verborgen. 

Trotz deutlicher Naturübermacht, die die westliche Welt gebrochen zu haben vorgibt, trotz Mangel und Krankheit als Prinzip nicht nur des Dschungels, viele Länder Afrikas wirken jünger, weniger deprimiert. Und das nicht, weil sie siegen, sondern weil sie akzeptieren, wieviel Unverfügbares das Leben ausmacht. Entsprechend identifizieren sich viele Afrikaner mit dem Verlieren, allerdings sind sie im Verhältnis zu uns Europäern – die wir die Unvermeidlichkeit der Niederlage nicht einsehen, die glauben, vor lauter Siegen im Umgang mit Welt und Wirklichkeit ohne die Fähigkeit des Verlierens auskommen zu können – die besseren Verlierer, nicht selten sogar glücklichere.

Dr. Georg Salzberger